Die Dame auf dem Sonnendeck

Eine Dame im Liegestuhl auf dem Sonnendeck eines Schiffes

von Peter Josef Dickers

Die Zahl der Hundertjährigen hat sich in den vergangenen Jahren verdreifacht, habe ich gelesen. Viele seien aktiv und würden noch Pläne schmieden. Sie wüssten, dass sie mit ihrer altersbedingt eingeschränkten Energie haushalten müssten. Dennoch seien sie mit ihrem Leben zufrieden.

Letzteres schien auch für die unauffällig wirkende Dame auf dem Sonnendeck zuzutreffen. Ob sie allein unterwegs war und hier oben die Flusslandschaft an sich vorüberziehen ließ? Ein mitreisender Herr setzte sich zu mir an den Tisch. In ein paar Jahren werde er achtzig Jahre alt, hoffe aber, noch etliche Reisen machen zu können, verriet er mir. Ob er allein reise, fragte ich. Nein, die unbefangene Erwiderung. Seine Mutter sei mit an Bord.

Seine Mutter sitze dort drüben. Ein kurze Geste verwies auf die hinter ihm die Sonne genießende Dame. Nach deren Alter fragte ich nicht. Ohne meine Überraschung zur Kenntnis zu nehmen, erzählte der Sohn von seiner Mutter – von ihrer Lust auf Leben, ihrem Durchsetzungsvermögen, ihrem Bedürfnis nach Selbständigkeit.

Schönfärberei konnte es nicht sein, was der nicht mehr ganz junge Sohn über seine betagte Mutter erzählte. Dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn bei zunehmendem Alter die Gedächtnisleistung nachlässt und helfende Hände anderer Personen willkommen sind, schien bei der alten Dame nicht vonnöten. Seniorenresidenz, Altenheim, betreutes Wohnen – für sie keine in Frage kommende Einrichtungen.

Abends traf ich sie mit ihrem Sohn in der Lounge. In einem mir bekannten Seniorenstift sind die Bewohner um 19 Uhr müde und liegen wohlversorgt im Bett. Wer noch ein Bedürfnis verspürt und das zum Ausdruck bringen kann, schellt nach der Nachtschwester. Der Abend ist Teil der Nacht. Jetzt war es zwei Stunden später als neunzehn Uhr.

Die rüstig wirkende Seniorin genoss den Abend und den Cocktail. Mit Worten und Gesten gewährte sie Einblick in einige Stationen ihrer Lebensgeschichte. Ich brauchte keine Fragen zu stellen und musste keine Antworten geben.

Vor mir saß keine jung gebliebene Alte, sondern eine alt gewordene, alt aussehende, vom Leben gezeichnete Frau. Sie war von gestern – das verbarg sie nicht; aber sie stellte sich der Gegenwart und hatte nicht vor, sich in Kürze daraus zu verabschieden. Viele Abschiede hatte sie hinter sich – Abschied von ihrem früh verstorbenen Mann, von ihren irgendwo in der Welt lebenden Kindern mit Ausnahme jenes Sohnes, mit dem zusammen sie diese Reise angetreten hatte.

Viele Verzichte prägten ihr Leben. Ihr Leben hatte sich nicht im Sorglosparadies abgespielt; manchmal war es einem Hindernisrennen nicht unähnlich gewesen. Aber sie hatte gelernt, damit umzugehen.

Die Tage auf dem Schiff, die sie relativ sorglos verbringen durfte, täuschten nicht über Defizite hinweg, die sie erlebt, erduldet, erlitten hatte. Ihre Gesichtszüge verrieten, dass sie nicht zur Generation der Best-Ager-,Golden-Ager-Reisenden gehörte. Ob ihre besten Jahre lange zurücklagen, ob sie Jahre voller Glück und Seligkeit erlebt hatte, darüber hätte sie wahrscheinlich nicht laut nachgedacht.

Die Dame auf dem Sonnendeck war eine von mehr als hundert Reisenden auf dem Schiff, aber vor allem sie ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich habe sie bewundert.