Der Schrei des Kranichs

Vögel am Himmel

von Waltraud Käß

In der Luft lag Abschied. Abschied vom Sommer, der in der Natur und auch bei den Menschen seine Spuren hinterlassen hatte. Während ihre Freunde zum Urlaub schon tiefbraun in den Süden gefahren waren, lechzten Bäume, Sträucher und Menschen nach einem Tropfen Wasser. Dann schickten die Urlauber farbige Ansichtskarten mit Klagen über das schlechte Wetter und sie taten ihr ein bisschen leid.

Der Herbst schlich sich allmählich in die Natur, obwohl er noch einen kleinen Umweg über diesen wunderbaren Altweibersommer nahm. Sie liebte diese Jahreszeit, und auf weiten Spaziergängen ließ sie die Blicke hinauf bis in die Wipfel der Bäume schweifen, genoss das Farbenspiel der Natur und sah die ersten taumelnden Blätter auf ihrem Weg zur Erde. Auch die Nächte senkten sich schneller über die Tage. Die Luft war kühl am Abend und sie mochte das Streicheln des Windes auf ihrem Gesicht.

Heute Mittag war sie in der kleinen Pension in Juliusruh im Norden der Insel Rügen angekommen. Sie wollte nur über das Wochenende bleiben. „Regine, warum willst Du ausgerechnet in dieses Nest fahren, wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagen“, sagte ihr Mann. Sie konnte ihm nicht die Wahrheit sagen, fand eine glaubhafte Ausrede, doch tief in ihrem Inneren brannte das schlechte Gewissen.

Vierzig Jahre war sie nicht mehr auf dieser Insel gewesen und sie hatte Mühe, sich zurecht zu finden. Bei Stralsund fuhr sie, aus Berlin kommend, auf den neuen Rügendamm und überquerte in mehr als vierzig Meter Höhe die Meerenge zwischen dem Festland und der Insel. Sie erinnerte sich an die umständliche Bahnfahrt vor vierzig Jahren und lächelte in sich hinein.

Es war in den Herbstferien und alle Schüler der Abiturklasse waren auf dem Weg zu einem einwöchigen Lehrgang. Das Abteil des Zuges war zum Bersten voll gewesen. Keine der Freundinnen aus ihrer Klasse saß auf dem ihr zugewiesenen Platz. Und dazwischen die Jungs. Die Knäuel von Armen und Beinen auf den Sitzbänken waren nicht immer eindeutig zuzuordnen.

Wellen von lautem Lachen und leisem Kichern schwappten durch die Abteile und eine leicht erotische Spannung lag über der Szene. Die Flaschen mit Rosenthaler Kadarka kreisten in der Runde und der Genuss des Weines erhitzte die Sinne. Sie fühlten sich alle so leicht. Es war Altweibersommer und eine Woche unbeschwertes Lagerleben lag vor ihnen. Sie hatten das letzte Schuljahr vor sich und danach begann der Ernst des Lebens.

Juliusruh hatte sich doch sehr verändert. Neue Hotels waren entstanden. Regine suchte den Weg an den Dünen entlang zum ehemaligen Ferienlager, fand ihn, vermeinte das Stimmengewirr von damals zu hören und lief doch vergebens. Das Lager existierte nur noch in ihrer Erinnerung.

Der Uferweg verlief kurvenreich, doch das Rauschen des Meeres wurde immer lauter. Ihre Nasenflügel bebten, da war er, der Geruch von Meer und Tang. Gleich würden die hohen Sanddornbüsche mit den orangefarbenen Beeren den Blick auf die Ostsee und den kilometerlangen Sandstrand frei geben.

Mit der rechten Hand zog sie den Kragen fester zusammen, ihre linke Hand umfasste den Hühnergott in der Jackentasche, den sie vierzig Jahre für diesen Tag aufbewahrt hatte.

Der Strand war fast menschenleer. Sie zog die Schuhe aus und ging ein Stück hinein in die Gischt der anrollenden Wellen. Die Kälte des Wassers prickelte unter den Fußsohlen und jagte ihr eine Gänsehaut über den Körper.

Erst leise, dann lauter hörte sie den heiseren Schrei. Sie kannte ihn gut und sie hatte auf ihn gewartet. Noch einer und noch einer, die Schreie verdichteten sich. Da waren sie. Sie sah den Schwarm in geordneter Formation im Anflug. Kraniche. Es war ihre Zeit. In den Sumpfwiesen hinter Glowe sammelten sie sich auf ihrem grenzenlosen Weg in den Süden.

Barfuß lief sie weiter, schaute ab und zu zurück, sah, wie die Wellen ihre Spuren im feuchten Sand ins Meer spülten. Nichts war eben ewig. Sie lief und zählte die Aufgänge zu den Dünen. Endlich hatte sie den Platz gefunden, an dem sie vor vierzig Jahren ihre Sandburg gebaut hatte. Sie kannte ihn genau.

Regine wusste nicht, ob er kommen würde. Und wenn? Würde sie ihn erkennen? Was sollte sie ihm sagen? Vorwürfe nach so langer Zeit waren wohl nicht angebracht. Sollte sie ihm von dem Kind erzählen, welches ihr Ehemann Jahre später adoptiert hatte? Von den schlaflosen Nächten, von dem Warten auf ein Lebenszeichen von ihm, dem Vater ihres Kindes?

Sie setzte sich in den Sand, wartete, legte den Kopf auf ihre Arme. Heute würde sie ihn hier treffen. Wie aus weiter Ferne kam die Erinnerung und sie hörte die Stimme des Jungen von damals, als er sich neben ihr niederließ. „Schauen sie nur, die Kraniche. Sie werden auch Sonnenvögel oder Glücksvögel genannt. Um diese Zeit gibt es viele hier. Sie sammeln sich und fliegen in den Süden.

Wissen sie eigentlich, dass die Spannweite ihrer Flügel über zwei Meter beträgt? Und wissen sie auch, dass die Kraniche synchron fliegen? Kraniche schlafen nur ruhig, wenn sie nasse Füße haben. Schauen sie, da kommt schon wieder ein Schwarm. Wie majestätisch sie doch fliegen.“ Sie sah nach oben und in seine Augen.

Der Junge war zur Ausbildung in einem Lager der Gesellschaft für Sport und Technik ganz in der Nähe. Mit dem Ende ihres Lehrgangs würde auch er seine Ausbildung hier beenden. Pilot bei der Interflug wollte er werden, der Kranich war das Signet ihrer Flugzeuge. Und deshalb musste er anschließend nach Berlin. Sie hatte sich für den Beruf einer Krankenschwester in Erfurt entschieden. „Pass auf“, sagte er, „ich kann den Schrei eines Kranichs nachmachen.“

Er holte ein Stück Schilfrohr aus seiner Hosentasche, schnitzte ein wenig daran herum, und dann ahmte er den Schrei des Kranichs täuschend echt nach. Regine hatte zum Abschied geweint. Doch er kramte noch einmal in seiner Tasche und schenkte ihr den Hühnergott. „Wir wollen uns ein Versprechen geben“, sagte er, „egal was passiert. Hier an diesem Platz wollen wir uns auf den Tag genau in vierzig Jahren treffen. Dann sind wir bestimmt schon Großeltern und werden über unser Leben sprechen.“

Regine öffnete die Augen. Auf diesen Tag heute hatte sie gehofft, vierzig Jahre lang. Der Mann, auf den sie wartete, er war nicht gekommen. Die Luft hatte sich inzwischen abgekühlt, die Sonne begann langsam in den Horizont abzutauchen. Sie stand auf und ging den Weg zurück. Dann nahm sie den Hühnergott aus ihrer Tasche, drückte ihre Lippen darauf und warf ihn ins Meer. Es musste Frieden sein, endlich.

Der Mann, der wenige Kilometer entfernt den Sandstrand betrat, war Stunden zuvor nach einer langen Fahrt aus München in Glowe angekommen. Unruhig lief er auf und ab. Regine musste kommen. Es war ein Versprechen, welches sie sich damals vor vierzig Jahren genau hier an dieser Stelle gegeben hatten. Er kannte die Stelle genau.

Doch keine Menschenseele weit und breit, nur weit entfernt am anderen Ende des Strandes konnte er ein winziges Pünktchen ausmachen, welches sich immer weiter entfernte. Er hörte die Schreie der Kraniche immer näher kommen. Ein ganzer Schwarm flog über ihn hinweg, synchron und in Formation.

Am Strand von Juliusruh und am Strand von Glowe sahen zwei Augenpaare dem majestätischen Flug der Sonnenvögel hinterher und zwei Menschen trauerten über ein nicht eingelöstes Versprechen.