Badetag
Bild: Dieter Poschmann / pixelio.de
von Peter Josef Dickers
Wellness hatte in meiner Kindheit einen anderen Stellenwert als heute. Sie hieß anders und verlief anders. Samstags in die Zinkbadewanne, so lautete unsere wöchentliche Wellness-Veranstaltung.
Diese Art nachkriegszeitlicher Körperkultur fand in unserer großen Küche statt. Nach dem Mittagessen holte Mutter die Zinkbadewanne, die an einem Haken im Stall hing, in die Küche und stellte sie vor das Fenster. Ein bisschen sah sie nach Sarkophag aus. Die Wanne, Bütt hieß sie bei uns, sollte uns Wochenend-Labsal spenden.
Uns – das waren Mutter, Tante, mein Bruder und ich. Mutter schleppte aus dem Waschbottich nebenan im Stall zehn Eimer heißes Wasser heran und goss es in die Wellness-Wanne. Auf dem Küchenstuhl, der daneben stand, lag ein dickes Stück Kernseife. Die Reinigung versprach gründlich und porentief zu werden. Aromatische Düfte drangen höchstens vom Küchenherd herüber, auf dem die Rindfleischsuppe für das Sonntagsessen kochte.
Dann folgte ein entscheidender Augenblick. Quer durch die Küche spannte Mutter ein großes Tuch. Das Wellness-Studio wurde abgetrennt und entzog sich fortan unseren Blicken. Mein Bruder und ich saßen auf der Küchenbank, Blickrichtung Küchenfenster, Zuerst entschwand die Tante hinter den Vorhang. Nur an hellen Sommertagen ermöglichte uns das dahinter liegende Küchenfenster bescheidene Anatomie-Studien.
Sobald die Tante ihren Baderitus absolviert hatte, erscholl Richtung Küchenbank das Kommando „umdrehen“. Sie entschwand dann unseren Blicken. Die Badestube war aber längst noch nicht für uns beide frei. Jetzt kam Mutter an die Reihe. Das Badewasser war zwar schon ziemlich eingetrübt, aber Mama fand das nicht weiter schlimm. Sie nahm den großen Schöpflöffel – „Schäpp“ nannte sie ihn – schöpfte den Seifen-Schmand von der Oberfläche ab und füllte einen Eimer heißes Wasser nach. Die gleiche Prozedur wiederholte sie, wenn der hierarchischen Ordnung nach ich in die Wanne steigen durfte.
Das Badewasser hatte inzwischen Ähnlichkeit mit der Rindfleischbrühe auf dem Küchenherd, nur trüber und mit diversen Einlagen versehen. Mutter hatte sich wieder angezogen und wusch mir den Kopf. Mit dem großen Handtuch, das zuvor schon mit verschiedenen anderen Körperteilen der Badefamilie Bekanntschaft gemacht hatte, trocknete sie mich ab.
Dann konnte auch mein Bruder in die Wanne steigen. In einem kostengünstig geführten Haushalt war Wasser kostbar. Daher glich die Badewanne inzwischen einem undurchdringlichen Tümpel, was jedoch den Reinigungszeremonien keinen Abbruch tat.
Wenn wir am nächsten Morgen die Wäscheleine mit den Socken über dem Küchenherd baumeln sahen, ahnten wir, dass auch sie noch in der Brühe gewaschen worden waren.
Es war immer ein spannender Samstagnachmittag. Von Allergien oder Staubmilben, von Desinfektionsmitteln oder Fußpilz habe ich nichts gehört. Wahrscheinlich hat es das damals noch nicht gegeben. Krank geworden bin ich auch nicht.
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