Tipp-Ex

Bühnenbild Eine umgekippte Flasche Tipp-Ex

_von Sally Jaeckel_

Als er sie kennengelernt hatte, war es ihm nicht aufgefallen. Sie trug zwar eine Brille, und in ihrem Zimmer gab es hunderte von Büchern, aber die Schreibmaschine würde doch ihrem Vater gehören, hatte er gedacht. Erst, als sie in eine gemeinsame Wohnung zogen und die Schreibmaschine ihn aus einer Kiste anstarrte, wuchs die Ahnung, sein zartes Bücherwürmchen könnte außer ihm noch anderes lieben.

Er merkte bald, dass er bei den praktischen Dingen des Lebens allein war wie vor der Ehe. Natürlich hatte er sein Bücherwürmchen geheiratet; sie würden schon zueinanderfinden, auch geistig. Es war ja nicht so schlimm, dass er ihre Gedichte nicht verstand und in ihren Novellen (Was, zur Hölle, waren Novellen?) keine Tiefe ausmachen konnte. Sie müssten Geduld miteinander haben. Hatte er ja auch, als er versuchte, ihr das Kochen beizubringen. Manchmal traf es ihn doch, wenn er hungrig nach Hause kam und sie in der Bibliothek war. Und wenn sie kochte … Nun gut, das konnte er ja selber.

Sie wohnten in der Platte. Schön war das, immer warm, fließendes Wasser, Fahrstuhl, nichts zu meckern bis auf die Hellhörigkeit. Es ging nicht ohne Rücksicht auf die Nachbarn. Das liebe Mädchen war darum manchmal gereizt. Wenn sie inspiriert sei, dürfe sie nicht schreiben, klagte sie.

Er achtete die Phasen ihrer Inspiration. Bis in seine Träume verfolgte ihn das Klappern, aber sein Mäuschen schuf ja Kunst. Er gab sich Mühe, stolz darauf zu sein.
In ganz seltenen, dunklen Momenten hatte er Gedanken, die ihn ängstigten. Sie wäre selber unlebendig wie Papier, tickerte es da in seinem Kopf. Sie wäre von der Schreibmaschine besessen. Ihre Finger wären doch viel öfter an diesem verfluchten Gerät als … nun ja, dort, wo sie seiner Meinung nach hingehörten. Sie wäre seine Frau und nicht sein Buch, verdammt noch mal!
Er hatte ein Gedicht gelobt, und sie kam ihm entgegen. Er konnte ja nichts für seine Natur. Ausgehungert, wie er war, hielt er sie nicht lange ab vom Schreiben. Und die Schonung, die sie während ihrer Schwangerschaften einforderte, verschaffte ihr weitere Zeit für das Erschaffen ihrer Werke. Das Bücherwürmchen wurde rundlich und auf eine Art fraulich, mit der er nicht gerechnet hatte. Sie wurde Mutti.

Sie hatten reizende Kinderlein, und Madame tippte Geschichten. Reizendste Kindergeschichten. Er wurde zum Lesen genötigt und sollte einen Kommentar abgeben.
“Toll …” murmelte er und verdrehte heimlich die Augen.
Sie klatschte begeistert in die Hände, es sah aus wie das Backe-backe-Kuchen-Spiel.

Immerhin verdiente er genug als Schichtarbeiter. Wusste sie überhaupt noch, wann er arbeiten war? Das Geld für die technische Aufrüstung war jedenfalls da. Sie ertrug sein Gelöte und Geschraube, weil sie endlich Texte speichern konnte.

Er hatte ja gewusst, dass es nach der Heirat nicht mehr ganz so romantisch sein würde wie am Anfang einer Ehe. Hatte er bei seinen Eltern gesehen und bei seinen Freunden. Nun ja. Aber wie sah es bei ihm jetzt aus? Er kam nach Hause, fragte sich, ob es Sinn hätte, sie anzusprechen, was hieß, sie zu stören, und sehnte sich nach Ruhe. Bemerkt oder unbemerkt, er kroch ins Bett.

Er war gerade eingeschlafen, da erklang der Nadeldrucker. In ihm zerbrach etwas.

“Jensen, Sie sind zu laut!” sagte der Nachbar. “Sie schrei‘n immer rum in Ihrem Schlafzimmer. Mensch, das is hier Platte, da hört man die Flöhe husten!”
Er wusste nicht mehr, was er geantwortet hatte. Nur, dass eine Lösung her musste.

Am nächsten Tag hatte er sie, holte sie ins Haus. Die Gattin starrte darauf und konnte ihr Glück kaum fassen.
Eine Typenradschreibmaschine! Mehrere Schriftarten! Ihr Ruhm war nicht mehr aufzuhalten.
Sie schrieb und schrieb. Der Inhalt war nun ziemlich egal, wichtig war, wie es fein und kursiv aussah. Herzig, einfach wundervoll.
Er wurde ziemlich ruhig.

Sein Tippmamsellchen war kreativ wie nie. Sie las den Kindern selbst verfasste Geschichten vor, von denen diese schnell einschliefen. Sie schrieb Tagebuch. Es gab dicke Ordner mit Gedichten, Novellen und Betrachtungen zu fast allem. Sie erzählte ihm mit leuchtenden Augen, dass sich ihr Schreibtempo verbessert hätte. Ob er mal stoppen wolle. Er meinte, er müsse einkaufen.
“Bring Tipp-Ex mit!” rief sie ihm nach. Er fand sich in einem Geschäft wieder mit einem Einkaufzettel, den sie auf der Maschine geschrieben hatte. Er starrte wortlos darauf.

Sollte er heimkehren? Nun, wohin sollte er sonst?

Sie saß mit den Kindern am Schreibtisch, half ihnen, die Finger auf die Tastatur zu legen, und sagte immer wieder vor: “ASDF – JKLÖ.” Sie zeigte es ihnen, tippte zwischendurch Textpassagen und bemerkte gar nicht, dass die Kleinen längst vorm Fernseher gelandet waren.
“Hier, Kuchen”, murmelte er abwesend und stellte den Kindern den Teller hin.

“Sehn Se, jetz is ruhich im Schlafzimmer”, lobte der Nachbar. Oder grinste er schadenfroh?

Was würde denn helfen? Noch ein Kind? Wohl kaum. Überhaupt. Müsste er zwecks Ausübung des Beischlafs einen schriftlichen Antrag stellen? Mit Schreibmaschine? Er glotzte auf ihren Rücken und fasste einen Entschluss.
Ihm fiel nicht auf, dass er bei seiner Scheidung ziemlich einsilbig war. Keine Vorwürfe, keine Rechtfertigungen. Stattdessen starrte er die junge Frau an, die neben dem Richter saß und das Protokoll dieses Lebensabschnittes flott in die Schreibmaschine hämmerte.

Das Bücherwürmchen, gerundet und mit stärkerer Brille als früher, zickte nicht beim Besuchsrecht für die Kinder. Wohnung, Bücher, Schreibplatz blieben ihr ja.

Er hatte Alpträume. Nicht lange, aber einige Male war er auf der neuen Liege in seiner Ein-Raum-Wohnung in die Höhe geschossen, hatte nach Luft geschnappt, weil er von Büchern geträumt hatte. Nicht einfach von Büchern, es war ein Schaufenster gewesen, das er gesehen hatte, das Schaufenster einer Buchhandlung, und auf allen Büchern prangte der Name seiner Ex-Frau, die jetzt berühmt und schwerreich war. Und er hatte sie in den Wind geschossen …

Erledigt, vorbei, das Trauma war verarbeitet, und Tipp-Ex müsste er nie wieder einer Frau mitbringen. Der Computer an seinem Arbeitsplatz summte leise. Er hatte Internet. Es war so leicht, eine neue Frau zu finden. Im Chat konnte er mit ihnen anbandeln.

Eine gefiel ihm besonders. Sie verstand ihn so gut. Sie war auch geschieden und hatte ebenfalls Kinder. Auf dem Bildschirm wuchs die Schlange der Buchstaben schnell. Das hätte sie lange geübt, schrieb sie ihm, das Zehn-Finger-Schreiben. Ihr Ex-Mann hätte ja nicht viel Verständnis gehabt, überhaupt war da wenig Gespür für die Genialität ihrer Werke. Ob sie ihm eins schicken solle, fragte sie ihn und bekam nie eine Antwort. Seine Finger waren über der Tastatur erstarrt.