Alles wird gut - Ein Gartenmärchen Kinder und Erwachsene
Bild: Lisa Sprecketmeyer / pixelio.de
_von Waltraud Käß_
Schon längere Zeit lag die kleine trockene Erbse unbeachtet neben anderen in einem Tütchen im Küchenschrank und dachte über den Sinn ihres Daseins nach. Ihre Schale war hart und sah ein wenig aus wie die Orangenhaut am Bein einer schönen Frau. Wie bin ich nur hierher geraten, dachte sie. Mir träumte, dass ich schon mal ein besseres Leben hatte. Jetzt bin ich hässlich und niemand hat mich lieb. Als das Tütchen in Bewegung geriet, kullerte sie sich erschrocken auf die Seite. Sie wurde hin geschoben, sie wurde her geschoben, sie wurde so durchgeschüttelt, dass sie die Orientierung verlor. Dann fiel sie aus großer Höhe in ein Erdloch und verlor das Bewusstsein.
Als sie zu sich kam, spürte sie um sich herum nur kalte Erde. Und es war so dunkel. So, dachte sie. Das war’s also. Nun hat man mich begraben und nie wieder werde ich die Sonne erblicken und ihre Wärme spüren, von der ich so wunderbar geträumt habe, und nach der ich mich so sehne.
Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und sie begann sich in ihrem Erdloch umzuschauen. Links von sich entdeckte sie kleine schwarze Körner und es freute sie sehr, dass sie nicht mehr alleine war.
„Oh, wer seid ihr denn?“, fragte sie in die Runde. „Seid ihr auch begraben worden?“
„Wir sind die Radieschen“, antworteten die Körnchen im Chor, „und wir bleiben auch hier unten. Bald wirst Du sehen, wie wir rund und rot werden und sehr schön. Dann werden wir dich verlassen“.
„Ach schade“, sagte die kleine Erbse. „Mit wem soll ich mich dann unterhalten?“
„Mit uns kannst Du das immer tun“, tönte es hinter ihrem Rücken. Sie schaute hinter sich und entdeckte längliche helle Körnchen. Sie sahen aus wie kleine Schiffchen, die in einer Reihe im Hafen liegen.
„Ah, guten Tag, was macht ihr denn hier unten?“
„Wir sind die Kohlrabi“, bekam sie zur Antwort. „Doch wir haben noch Zeit. Erst gehen die Radieschen. Danach strecken wir unsere grüne Ärmchen aus dem Erdreich, plustern unsere Bäuche auf und halten sie in die Sonne“.
„Habt ihr es gut“, sagte die kleine schrumplige Erbse traurig. „So hart und hässlich wie ich bin, werde ich das nie erleben“.
„Na ja“, antworteten die Kohlrabi hochmütig, „nicht jeder kann so rund und schön sein wie wir“. Noch während sie redeten, raschelte es hinter der kleinen Erbse. Erschrocken sah sie in die Augen eines Bindfadens. Sie konnte nicht ausweichen und so sagte sie tapfer: „Wer bist Du denn? Du kommst mir gerade recht. Wollen wir miteinander spielen?“
„Geh mir aus dem Weg“, entgegnete der Bindfaden. „Ich habe hier unten eine verantwortungsvolle Aufgabe und außerdem keine Lust zum Spielen und Quatschen. Als Regenwurm muss ich den Boden lockern und Du hockst direkt in meiner Fahrrinne. Aber vor allem bist Du hässlich und an Deiner harten Schale würde ich mir nur die Nase stoßen“.
Sprach’s, umkurvte sie und verschwand. Die kleine Erbse fing an zu weinen. Da spürte sie, wie jemand ihre Schale streichelte.
Um sie herum tanzten kleine, schwarze Wesen mit langen Antennen. Sie trugen weiße Rucksäcke auf ihrem Rücken und waren sehr beschäftigt.
„Guten Tag, kleine Erbse“, sagten sie. „Sei nicht traurig und trockne Deine Tränen. Dir wird es eines Tages besser gehen. Wir sind die Ameisen und würden ja gern mit Dir spielen. Doch wir haben keine Zeit. Unsere Kinder, die wir hier auf dem Rücken tragen, sind in unseren Erdhöhlen in großer Gefahr und wir müssen sie ständig in Sicherheit bringen. Also leb wohl“.
Während die kleine Erbse den Ameisen noch verwundert hinterher schaute, traf ein Schwall kalten Wassers sie mitten ins Gesicht. Ihr blieb aber auch nichts erspart und sie wusste nun, warum die Ameisen ihre Kinder so schnell in Sicherheit bringen mussten. Nass und erschöpft schlief sie ein.
Sie erwachte durch ein merkwürdiges Gefühl. Ihre Schale fühlte sich wunderbar weich an und auch sonst spürte sie ungeahnte Kräfte in sich. Wohlige Wärme umhüllte sie und sie begann vor sich hin zu träumen. Sie sah wunderschöne Blumen, die Sonne wärmte sie mit ihren Strahlen. Jäh wurde sie aus ihrem Traum gerissen. Die Erde um sie herum geriet in Bewegung. Was war das?
Sie sah große Schaufeln, die das Erdreich mal nach rechts und mal nach links zu Haufen auftürmte. Hinter den Schaufeln wurde ein mächtiger seidenschwarzer Körper sichtbar. Dann sah sie einen Kopf mit einer kleinen rosa Nase und schwarze gütige Knopfaugen, die sie belustigt musterten.
„Na, Du kleine Erbse“, sprach eine Stimme. „Liegst ja immer noch hier unten in der Dunkelheit. Ich beobachte Dich schon seit ein paar Tagen. Aber ich denke, am längsten hat es gedauert.“
„Was meinst Du damit“, fragte die kleine Erbse. „Und wie heißt Du eigentlich? Als höfliches Wesen stellt man sich einer kleinen Erbse doch vor. Und ich liege hier unten, weil ich hässlich bin und eine harte Schale mit einer Orangenhaut habe. Das bleibt wohl mein Schicksal“.
„Du bist zu ungeduldig, kleine Erbse. Ich, der weise Maulwurf, weiß, wovon ich rede. Du wirst bald die Sonne sehen. Du wirst sehr schön werden und Du wirst geliebt werden. Aus dieser Liebe werden viele kleine grüne Erbsen entstehen. Also habe noch ein paar Tage Geduld. Denk an meine Worte. Alles wird gut. Und sei nicht so vorlaut zu einem alten Maulwurf.“ Dann verschwand er langsam in seinem endlosen Tunnel.
Wütend schaute die kleine Erbse hinter ihm her, schimpfte und plusterte sich auf. „Mir reißt langsam der Geduldsfaden. Der Alte und ihr alle hier unten habt doch keine Ahnung, wie es in mir aussieht.“
Noch während sie schimpfte und sich aufgeregt hin und her warf, begann sich langsam ein Riss durch ihre Schale zu ziehen. Ein kleiner weißer Spross schob sich vorsichtig aus dem Gehäuse und sagte zu der verdutzt und ungläubig schauenden Erbse: „Ich bin Dein Trieb. Und damit Du klar siehst, ich bin es, der Dich an die Sonne zieht. Bleib cool. Wirst gleich sehen“.
Ein gleißender Strahl traf die kleine Erbse und ihr Trieb reckte und streckte sich unter den wärmenden Strahlen der Sonne. Das Leben konnte ja so schön sein.
Sie sah sich um und entdeckte die Gefährten aus dem Erdreich. Die Blätter der Radieschen verwoben sich schon zu einem Dach und die Kohlrabis sahen aus ihrer Perspektive wie große Bäume aus.
Ha, sie hatte es geschafft. Sie war in der Welt. Eine fröhliche Kinderstimme drang an ihr Ohr: „Mami schau mal, aus der Erbse, die ich in die Erde geworfen habe, kommt was raus“.
„Das ist schön“, sagte die Mami. „Aber lass sie in Ruhe. Sie braucht jetzt Zeit, sich zurecht zu finden und zu wachsen, genau wie Du. Wir werden ihr noch einen starken Ast an die Seite geben, damit sie Halt hat.“
Der Ast hatte lustige Augen. „Lehne Dich ruhig an mich, kleine Erbse“, sagte er. „Wenn Du Deine jungen Triebe so um mich alten Ast schlingst, wird auch mir noch ganz warm ums Herz.“
Die kleine Erbse tat es, wand sich empor, hielt sich fest an dem starken Ast, wuchs höher und wurde immer kräftiger. Sie sah die wunderschönen Blumen im Garten, gelb und rot und blau. Weit unter ihr standen die Radieschen und Kohlrabi und sahen neidisch zu ihr empor.
In einiger Entfernung, auf einer der süß duftenden Blüten, saß ein wunderschöner Schmetterling. Das Herz der kleinen Erbse fing an zu zittern vor Liebe und sie schickte glühend heiße Blicke zu ihm hinüber. Er aber beachtete sie nicht. Er flog von Blüte zu Blüte, doch immer an ihr vorbei. Traurig ließ sie ihre Triebe hängen.
„Das ist falsch. Schmück Dich noch ein bisschen mehr, steck Dir Deine Blüten ins Haar“, sagte der alte Ast zu ihr. „Du wirst die Schönste sein in diesem Garten und Deine Sehnsucht nach dem Schmetterling wird in Erfüllung gehen.“
Die Biene, die an ihr vorüber fliegen wollte, stutzte, als sie die Schönheit der kleinen Erbse sah. „Ah, Du bist die Neue“, sagte sie. „Willkommen in meinem Garten. Deine Blüten duften wunderbar. Darf ich von Deinem Nektar naschen?“
Gern tat die kleine Erbse der Biene den Gefallen. „Danke“, sagte die Biene, „aber nun muss ich weiter. Doch ich glaube, Du bekommst Besuch. Der wunderschöne Schmetterling da drüben beobachtet Dich schon eine ganze Weile. Und ich glaube, jetzt traut er sich endlich.“
Die kleine Erbse sah ihn kommen und ihr Herz war trunken vor Glück. „Oh, Du Schönste hier im Garten“, flüsterte er ihr zärtlich zu, „so lange habe ich auf Dich gewartet.“
Er liebkoste sie mit seinen Flügeln. Sie spürte die feinen Härchen seiner Glieder auf ihren Blütenblättern und in ihrem Bauch begannen viele kleine Schmetterlinge zu tanzen.
Er umflog sie in weiten Kreisen und ließ sich auf keiner anderen Blüte mehr nieder. Sie dachte an den alten weisen Maulwurf. Seine Prophezeiung war eingetroffen. Alles wird gut. Das also war die Liebe. Sie spürte ihre Nachkommen wachsen und hüllte sie sorgsam in kleine Hängematten ein, damit ihnen nichts Böses geschehe.
„Ich liebe euch, Ihr kleinen Erbsen“, sagte sie zu ihnen, „und will euch eine Botschaft auf dem Weg ins Leben mit geben:
Ihr werdet Abenteuer bestehen, Ihr werdet traurig sein und Ihr werdet die Liebe spüren. Ihr werdet leben und Ihr werdet vergehen. Und aus Euch wird neues Leben entstehen. Das ist der ewige Kreislauf der Natur. Und es wird auch in Zukunft Menschen geben, die die Natur schützen. Also sorgt Euch nicht. Glaubt Eurer alten Erbsenmutter: Alles wird gut“.