Der Engel mit dem geknickten Flügel

Ein liegender Weihnachstengel

Ein liegender Weihnachtsengel

von Tina Gonschorek

Der Oktobertag war dunkel und trübe. Stürmischer Wind umtoste ein kleines Haus, das ihm trotzig Widerstand bot. Aus dem Schornstein kräuselte sich Rauch und aus den hell erleuchteten Fenstern drang ein warmer Schein. Drinnen saß eine Frau namens Rosalie an einer Töpferscheibe und sang leise vor sich hin während sie fleißig an einer Schale arbeitete. Wilde graue Locken umrahmten ihr freundliches Gesicht, welches ein verträumtes Lächeln zierte.

Als sie mit der Schale fertig war, ging sie zum Tisch und blickte zufrieden auf das Werk dieses Tages. Diverse Schalen, Töpfe und Tassen standen dort und warteten darauf gebrannt zu werden. Nachdenklich sah Rosalie auf die kleine Menge feuchten Tons, die übrig geblieben war und murmelte vor sich hin: „ Was mache ich denn nur aus dem letzten Rest? Ach ich glaube das wird ein kleiner Weihnachtsengel.“

Die Töpferin setzte sich wieder hin und begann ihn zu formen während sie mit dem Ton sprach: „ Du wirst sicher einem Menschen sehr viel Freude bringen.“ Die Gestalt nahm Form an. Unter dem Kleidchen lugten winzig kleine Füßchen hervor und in die Hand gab sie ihm einen Stern.

Rosalie lächelte liebevoll, als sie das niedliche Gesicht gestaltete. Doch gerade als die Flügel fertig waren, fuhr ein heftiger Windstoß in den Kamin und ließ die Flammen auflodern. Vor Schreck fiel ihr der Engel aus der Hand wobei ein Flügel geknickt wurde, was sie aber nicht gleich bemerkte.

Erst viel später, als er schon gebrannt und bemalt war und vorsichtig verpackt wurde, fiel es ihr auf. Die Frau lächelte das Engelchen an und sagte:“ So bist du also wirklich etwas ganz Besonderes. Gefertigt aus dem letzten Rest Ton und mit einem geknickten Flügel!“

Einige Wochen später stand sie auf dem Weihnachtsmarkt und packte ihre Ware aus. Den Engel stellte sie ganz nach vorn, so dass ihn jeder sehen konnte.
Viele Menschen kamen an den Stand. Zum einen, weil sie so wunderschöne bunte keramische Schönheiten anbot, aber auch weil sie sich von der freundlichen und warmherzigen Ausstrahlung der Verkäuferin angezogen fühlten.

Allerdings schaute kaum jemand nach dem Engel. Er wurde zwar einige Male in die Hand genommen, aber wenn die Leute den geknickten Flügel sahen, stellten sie ihn verstohlen wieder hin. Rosalie lächelte fein, wenn sie das sah und tröstete das Engelchen mit den Worten: „Der richtige Mensch für dich kommt noch!“
So vergingen die Tage. Der Stand leerte sich und Weihnachten rückte näher. Noch immer hatte niemand den kleinen Engel gekauft.

Es hatte den ganzen Tag über stark geschneit und noch immer tanzten vereinzelte Flocken durch die kalte Winterluft. Die Sonne schickte ihre Strahlen gefächert durch die grauen Wolken und ließ dabei die Schneekristalle glitzern. Leider hatte die junge Frau, die mit schleppenden Schritten und hängenden Schultern die Straße entlang schlich, keinen Blick für die winterliche Schönheit.

Anna hatte Ärger im Büro mit ihrem cholerischen Chef. Zudem flatterte ihr an diesem Morgen die Betriebskostenabrechnung mit einer fetten Nachzahlung ins Haus. Seit Tagen machte sie sich riesige Sorgen um ihre Mutter, die sich mit einer heftigen Virusinfektion quälte. Und als gäbe es nicht schon Kummer genug, hatte ihr Verlobter sie mit ihrer besten Freundin betrogen. Das Maß war voll. Sie fühlte sich enttäuscht, allein gelassen und unendlich traurig.

Ein plötzlicher Windstoß, der kalt unter ihre Jacke fuhr, riss sie aus ihren trüben Gedanken. Wie aus einem Traum erwachend blickte sie sich um und ihr Blick fiel auf einen kleinen Weihnachtsmarkt. Während Anna der Duft von gebrannten Mandeln in die Nase stieg, regte sich in ihr ein seltsames lang vermisstes Gefühl, das sie zunächst gar nicht einzuordnen wusste, bis sie es als Spannung und Vorfreude erkannte.

Und so begann sie über den Markt zu schlendern, schaute sich die verschiedenen Stände an und beschloss, sich etwas Gutes zu tun. In Erinnerung an ihre glückliche Kindheit, gönnte sie sich eine Tüte gebrannte Mandeln und einen kandierten Apfel. Zu einem Stand mit Kunsthandwerk zog es Anna besonders hin.

Als sie näher kam, sah sie wunderschöne bunte Keramiken und dahinter eine ältere Frau, deren warme braune Augen sie wohlwollend betrachteten. Als sie die hübschen Sachen bewunderte, murmelte die Verkäuferin etwas vor sich hin, das so ähnlich klang wie: „Na nun kommst du in die richtigen Hände mein kleiner Engel!“ Anna wunderte sich zwar ein wenig, warum die fremde Frau von einem Engel sprach, maß dem aber keine Bedeutung zu.

Da sie noch kein Weihnachtsgeschenk für ihre Mutter hatte, beschloss sie, eine der künstlerisch gestalteten Keramiktassen zu erstehen. Nachdem sie sich nicht entscheiden konnte, welche Tasse sie kaufen sollte, bat sie die Verkäuferin um Hilfe. Diese lächelte und sagte: „Ich würde Ihnen die rot-orange Tasse empfehlen. Die warme Farbe schenkt gute Energie und passt zu Ihnen.“

Anna schmunzelte und bat sie, ihr das Geschenk einzupacken. Während dessen ließ sie ihren Blick über die Auslage schweifen und entdeckte auf einmal einen niedlichen kleinen Engel. Eigentlich fand sie so etwas ja kitschig, aber irgendwie zog er sie magisch an und als sie ihn in die Hand nahm, schien er ihr zu zuzwinkern.

Aber so etwas gab es doch gar nicht! Rosalie war noch immer mit dem Verpacken beschäftigt und so drehte Anna den Engel nach allen Seiten und entdeckte den geknickten Flügel.

In diesem Moment wollte sie diesen Engel unbedingt haben, denn er war genauso wenig perfekt wie ihr eigenes Leben momentan. Sie fühlte eine Aufregung, als ob etwas Besonderes geschehen war. Bevor sie die ältere Frau darum bitten konnte strahlte diese sie an und sagte: „ Ich schenke Ihnen den Engel. Er hat eine lange Zeit auf einen bestimmten Menschen gewartet, dem er eine besondere Weihnachtsfreude sein kann.“

Anna spürte ein starkes Gefühl der Freude in sich aufsteigen. Plötzlich empfand sie alles als nicht mehr so schwer. Sie fühlte wieder Mut und Hoffnung und wusste, dass sie alles in den Griff bekommen würde. Die Freundlichkeit der Töpferin und der Engel mit dem geknickten Flügel hatten etwas in ihr ausgelöst – die Vorfreude auf Weihnachten.