Der Einkaufszettel

Ein Blatt Papier mit der Überschrift Einkaufszettel und ein Stift

Ein Blatt Papier mit der Überschrift Einkaufszettel und ein Stift

von Annette Deutzer

Es war ein Tag, an dem ich viel zu tun hatte. Nach Feierabend war ich noch einkaufen gewesen. Müde und erschöpft war ich vor dem Fernseher eingeschlafen. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ich saß noch immer in meinem Fernsehsessel und es war sehr bequem. Trotzdem beschlich mich ein Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war.

Ich wurde unruhig, wusste aber nicht, was ich tun sollte. Mit einem Male öffnete sich von der Decke her ein schmaler Lichtspalt, vielleicht 2 m lang, der immer breiter wurde. Was war das? Und wo war ich? Ich starrte das Licht an und vergaß, mich in dem Raum umzuschauen, in dem ich mich befand, wenn es denn überhaupt ein Raum war.

Und ich spürte, dass ich nicht allein war, ohne dass ich jemanden sehen oder hören konnte. Das Licht kam, größer werdend, auf mich zu. Ich hörte meinen Namen, aber es war keine Stimme, die ihn rief. Als ich antwortete, entfernte sich das Licht und ich verstand, dass ich folgen sollte.

Eine melodische Stimme fragte mich freundlich: „Wo ist dein Einkaufszettel?” „Ich habe keinen”, antwortete ich. „Wo bin ich hier überhaupt?”
„Du bist in der Einkaufszentrale des Lebens”, antwortete die Stimme geduldig. „Hier kann man die Zutaten für sein Leben kaufen. Was möchtest du denn haben?”

Ich war perplex. Davon hatte ich noch nie gehört. Darauf war ich nicht vorbereitet. „Da muss ich erst nachdenken”, sagte ich vorsichtig, „das weiß ich doch nicht so auf Anhieb.”

„Natürlich nicht”, sagte die Stimme, „deshalb habe ich dich doch nach deinem Einkaufszettel gefragt.”
„Aber ich wusste doch nicht”, jammerte ich, „dass ich etwas für mein Leben einkaufen kann.”

„Ja”, sagte die Stimme wieder, „wer weiß das schon. Trotzdem kommen manche mit einem ausgefeilten Einkaufszettel. Da steht meist so viel drauf, dass sie es nicht bezahlen können. Sie kaufen auf Kredit.”

„Aber womit bezahlt man denn?” fragte ich erstaunt. „Das ist unterschiedlich”, antwortete die Stimme, „man kann mit guten Taten bezahlen oder mit Lebenszeit, oder mit der Lebenszeit oder den guten Taten der geliebten Menschen.” Ich war entsetzt.

„Was kann ich mir denn genau kaufen?” fragte ich vorsichtig. „Alles, was du haben willst. Ein Pferd, ein Haus, eine Yacht, aber auch Gesundheit, viel Geld, ein langes Leben, eine interessante Aufgabe, viele Freunde, geistige Reife, Zufriedenheit, eben alles, was ihr Menschen so haben wollt.”

„Wie viel Zeit habe ich denn, um mir zu überlegen, was ich will?” fragte ich. Die Stimme antwortete gelangweilt: „So viel du brauchst, aber diese Zeit geht von deiner Lebenszeit ab.” „Aber wenn ich mir nun ein langes Leben wünsche, dann auch?” „Nein, dann geht die Zeit von der Lebenszeit deiner Lieben ab oder anderer Menschen, die dir nahe stehen.”

„Aber wenn ich mir nun auch für meine Lieben ein langes Leben wünsche?” „Dann geht die Zeit eben von der Zeit anderer Menschen ab, die sich das nicht gewünscht haben.”

„Das ist doch unlogisch und ungerecht”, empörte ich mich. „Wer sagt dir, dass alles logisch und gerecht sein muss? In der Natur geht es nicht um Logik oder Gerechtigkeit. Hier geht es um Energie. Die Energie ist eine Konstante. Sie hat nur verschiedene Erscheinungsformen. Eine davon ist dein Leben. Wenn du diese Energie verschwendest und dabei nicht auf dein Leben verzichten willst, wird sie eben von einer anderen Stelle aufgefüllt.

Du bist ein Mensch – und damit privilegiert. Du kannst bestimmen, was du mit deiner Energie tust. Tiere, Pflanzen und Steine können das nicht, sie werden von dir bestimmt, von deinen Wünschen. Dasselbe gilt auch für andere Menschen, die keine klaren Wünsche haben. Sie sind auch nur passive Energie. So ist das nun mal.”

„Kann ich mir denn alles wünsche, ohne Beschränkung?” „Ja.”
Ich spürte, wie mir übel wurde. Welche Verantwortung wurde mir hier aufgebürdet? Die Entscheidung über mein Leben blieb nicht ohne Auswirkungen auf Andere und auf den Zustand der Welt. Und wie sollte ich meinen Einkauf bezahlen? Man könnte auf Kredit leben, hatte die Stimme gesagt.

Als hätte ich die Frage laut gestellt, wurde sie mir auch schon beantwortet. „Wenn du versprichst, bestimmte Leistungen zu erbringen, gute Taten zum Beispiel, dann wird das auf deinem Konto gutgeschrieben. Du musst dich aber daran halten, sonst wird dein Konto von einem anderen Konto aufgefüllt. Du bestiehlst damit also jemanden, meistens deine Freunde und Familienangehörigen, aber manchmal auch fremde Menschen.”

„Und wie geht das vor sich?”
„Nun, sie werden zum Beispiel krank, obwohl sie sich mit ihren Gutschriften Gesundheit gewünscht haben, oder sie sterben verfrüht ganz plötzlich, obwohl sie sich ein langes Leben gewünscht haben. Viele Menschen, die meisten, die auf der Erde leben, bezahlen mit ihren Lebensbedingungen, ja mit ihrem Leben für die Kredite anderer.”

Empört schrie ich auf: „Das ist absolut ungerecht.”
„Ja”, antwortete die Stimme, „ich sagte es bereits, es geht nicht um Gerechtigkeit. War dir das bisher nicht klar? Wenn du dir Reichtum wünschst, kommt der irgendwo her. Wenn du ihn nicht selbst schaffst, dann muss eben ein anderer darauf verzichten. Wenn du dir ein langes Leben wünschst und nichts dafür tust, dann hat ein anderer ein kurzes.

Wenn du Gesundheit beanspruchst, ohne auf deine Gesundheit zu achten, dann wird ein anderer die dafür nötige Energie aufbringen müssen. Alles kostet etwas. So ist das eben.” „Warum ist das so?”

„Nun, wenn du zum Beispiel nichts für deine Gesundheit tust, sondern im Gegenteil deinen Körper mit zu viel Arbeit, mit Alkohol, mit Drogen oder anderem traktierst, wirst du krank. Die Medikamente, die du dann brauchst, sind auch Energie. Die Pflege, die du brauchst, ist auch Energie. Diese Energie ist Teil der gesamten Energie der Welt. Sie steht dann nicht für anderes zur Verfügung.

Dein Handeln und Deine Wünsche bestimmen zu jeder Sekunde den Verlauf der Geschichte. Das betrifft deine eigene Geschichte und die Weltgeschichte. Alles hängt mit allem zusammen.”
„Ich muss in Ruhe darüber nachdenken”, sagte ich, „ich muss genau entscheiden, was ich brauche in meinem Leben. Es ist einfach zu kompliziert für eine schnelle Entscheidung.”

„Keine Sorge, du kannst darüber nachdenken und dann noch einmal wiederkommen. Das nächste Mal solltest du aber einen Einkaufszettel haben. Geh jetzt, ich habe noch andere Kunden”, sagte die Stimme freundlich, bevor es um mich herum wieder dunkel wurde.

Als ich die Augen aufschlug, saß ich immer noch in meinem Fernsehsessel. Ich war aufgewühlt und aufgeregt. Dann stand ich auf und holte mir einen Zettel und begann, „meinen Einkaufszettel” zu schreiben. Ich schrieb die Zutaten für mein Leben auf, womit ich sie bezahlen wollte und wer außer mir Nutznießer dieser Lebenszutaten sein sollte. Auch Schaden sollte niemand nehmen.

Diese schwierige Arbeit betreibe ich seitdem täglich. Ich bemühe mich, ich denke nach und ich hoffe, dass ich einen ordentlichen Einkaufszettel habe, wenn ich wieder einmal danach gefragt werde.