Abschied vom Paradies…
Bild: Maximilian Dörrbeckere
von Helga Licher
Mein letzter Urlaubstag…
Noch einmal gehe ich den schmalen Weg zum Meer hinunter und atme tief die klare Seeluft ein.
Der Wind spielt zärtlich mit meinen Haaren, während mein Blick über die unendliche Weite des Meeres schweift. Ich lasse mich mit dem Wind treiben und spüre eine tiefe Ruhe in mir. Der feuchte Morgennebel steigt aus den Dünen empor und legt sich wie ein Schleier auf die letzten wunderschönen Blüten der Heckenrosen. Die Kühle der Nacht weicht behutsam der sanften Wärme eines Spätsommertages.
Es ist früh, der Strand ist noch menschenleer. Vereinzelt treffe ich einen Urlauber, der wie ich die letzten Tage des Sommers auf der Insel genießt.
Das Rauschen der Wellen mischt sich mit dem Geschrei einer Möwe, die einsam am Himmel ihre Runden dreht. Leicht wie eine Feder wird sie vom Wind getragen.
Ich bücke mich und greife nach einer Muschel, die sich im Sand eingegraben hat und nur einen winzigen Teil ihrer Schale preisgibt. Vor mir dümpelt ein morsches Holzboot im Rhythmus der Wellen.
Die Melodie des Meeres hinterlässt in meinem Herzen eine tiefe Sehnsucht nach Freiheit und Unendlichkeit.
Die bunten Strandkörbe wurden bereits vor einigen Tagen von kräftigen Männern auf einen Anhänger geladen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die ersten Herbststürme über die Küste fegen. Dann kehrt Ruhe ein, auf der Insel. Der Sommer geht zu Ende. Die Kinder müssen wieder zur Schule gehen. Zurück bleibt die Erinnerung an wunderschöne Ferien am Meer.
Ich weiß, ich werde sie vermissen. Die freundlichen Menschen, die mich jeden Morgen mit einem fröhlichen „Moin, moin“ begrüßen. Die Sonnenuntergänge – wenn der glutrote Feuerball in seiner ganzen Pracht langsam am Horizont im Meer versinkt.
Ich werde die blökenden Schafe vermissen, die auf den Deichen grasen. Und ich werde mich wieder einmal fragen, ob es mehr Schafe oder Einwohner auf meiner Insel gibt.
Der frische Seewind hinterlässt einen salzigen Geschmack auf meinen Lippen. Langsam gehe ich weiter. Meine Schuhe graben sich tief in den nassen Sand und hinterlassen Spuren. Fußspuren, die von den Wellen verwischt werden, als hätte es sie nie gegeben. Die Türen der Andenken-Läden rechts und links der Promenade sind längst verriegelt, die Fensterläden geschlossen.
Verschwunden sind Plastikeimer, Schaufeln und Segelschiffe aus ihren Schaufenstern.
Wenn ich meinen Blick nach rechts wende, schaue ich auf die rot-weißen Streifen des alten Leuchtturms. Noch immer weist er den Schiffen mit seinem Leuchtfeuer den Weg.
Wie vor hundert Jahren schickt er unermüdlich sein helles Licht über das Meer. Wenn mich die Fähre morgen hinüber aufs Festland bringt, wird sein strahlendes Licht ein letzter Gruß sein. Mein Herz wird schwer.
Ich werde wiederkommen – irgendwann …
Der frische Seewind treibt den feinen Sand vom Strand her in die Vorgärten und überzieht die gepflasterten Gartenwege mit einem Hauch Puderzucker. Farbenprächtige Astern und Dahlien fangen die letzten Sonnenstrahlen ein, und die Tautropfen auf ihren Blütenblättern glitzern wie kleine Diamanten.
In dem gemütlichen Café am Ende der Straße wird bereits Glühwein und Teepunsch angeboten. Gelangweilt poliert Antonio, der italienische Kellner das Besteck und winkt mir freundlich zu. Sein südländischer Charme und seine sonore Stimme lassen viele Frauenherzen höher schlagen. Und nicht selten ist das kleine Café während der Saison bis auf den letzten Platz besetzt, wenn Antonio unter friesischer Sonne italienische Arien schmettert. Ich erinnere mich an meine ersten Ferientage auf der Insel. Mir zu Ehren hatte der Sommer sein schönstes Kleid angelegt. Goldgelb leuchtete der Sanddorn, und die endlose Weite des Meeres im abendlichen Silberlicht ließen mich rasch den Alltag vergessen.
Azurblau war der Himmel über Friesland, als ich das erste Mal in die dunklen Augen Antonios blickte. Ein Urlaubsflirt – nicht mehr …
Ich lenke meine Schritte in Richtung Hafen. Ein Kutter, der von einer Schar Möwen begleitet wird, tuckert langsam durch die enge Hafeneinfahrt. Einige Urlauber warten mit ihren Einkaufstaschen am Anleger auf den frischen Fang der vergangenen Nacht. Müde setze ich mich auf die Bank gleich neben der Hafenmeisterei und beobachte die gefräßigen Möwen, die ständig auf der Suche nach Futter sind.
„Moin, moin“, begrüßt mich der alte Kapitän Jansen und setzt sich zu mir. Der raue Seewind hat in seinem Gesicht tiefe Furchen hinterlassen. Sein halbes Leben hat er auf See verbracht, sämtliche Weltmeere befahren, und nun sitzt er hier auf der Bank, und das Fernweh will ihn einfach nicht loslassen. In seiner Erinnerung steuert er sein Schiff noch immer über alle Ozeane, bis ans Ende der Welt.
Eine Zeitlang hängen wir beide unseren Gedanken nach, während wir dem Krabbenkutter beim Anlegen zusehen.
„Na mien Deern, Urlaub vorbei?“
Jansen zieht an seiner Pfeife und starrt aufs Meer hinaus.
Ich muss lachen, gesprächig sind sie nicht, die Menschen hier auf der Insel.
„Hm, morgen fahre ich nach Hause“, antworte ich leise und spüre einen Stich in meinem Herzen.
„So, so …“, sagt Jansen und greift nach meiner Hand. „Tschüss denn …“Wieder zieht er an seiner Pfeife und nickt.
Gesprächig sind sie wirklich nicht, die Menschen hier auf der Insel …
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