Der letzte Hahnenschrei
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von François Loeb
Jedes Mal, wenn ich auf meinem Hundegang, ich wandere täglich mehrmals mit meinem “inneren Schweinehund”, da er stets neue Verschiebungsanträge stellt ‚Schweinchen Schlau‘ getauft, am Scheideweg 23 vorbei, ertönt ein Hahnenschrei. Ob nachts um drei oder mittags um vierzehn Uhr. Pünktlich, egal welche Uhrzeit es sei. Beinahe, als wäre es ein mechanisch ausgelöster Klang.
Durch eine unsichtbare Lichtschranke verursacht, denke ich mir beim regelmäßigen leichten Erschauern meiner Trommelfelle, obwohl diesen im Lauf der Jahre bereits reichlich Hornhaut gewachsen sind. Ja, eines einsamen Erschreckens, da meine empfindsame Hühnerseele dadurch in Angst und Schrecken gerät. An Füchse denkt, die sie in die ewigen Jagdgründe holen will? Können Hühnerseelen ahnen? Fühlen?
Flattern ja. Selbst nach abgehacktem Kopf. Ein Beweis, dass es eine Seele gibt, bemerkt jaulend mein ‘Schweinchen Schlau’ jeweils nicht ohne dabei einen meckernden Laut von sich zu geben. Denn ihm wäre lieber ein süßes, von allen bewundertes Schäfchen, statt eines Schweinchens zu sein. Doch ‘man ist was man ist’. Hat das anzunehmen. Zu akzeptieren, selbst wenn ein Hahnenschrei ertönt. Mechanisch oder echt. Nackt, wie der Bock uns geschaffen hat, ertönt das trostvolle Echo meiner inneren Stimme, dabei die Ängstlichkeit vertreibend.
Selbstwert erneut aufbauend. Bis zum nächsten Hahnenschrei bei der Nummer 23. Am Scheideweg. Der so sicher erfolgt wie das JA unter dem Traualtar. Anzeigen müsste ich die Besitzer des Hahns längstens. Habe den Mut nicht dazu. Gute Nachbarschaft ist ein Axiom des Wohlbefindens. Und dies ist mir in Omikronischen Zeiten wichtig, die von Misstrauen geprägt auf Distanzeinhaltung als Weltanschauung eingestellt sind. Letzter Hahnenschrei? Ist die Nachbarin so gewandet?
Schaue ich sehnsuchtsvoll deshalb in ihren Garten? Ist der Hahnenschrei ein Abwehrmittel, damit ich keine Augenblicks-Flegelhaftigkeit begehe? Könnte ich dem letzten Hahnenschrei auch mit Messer und Gabel zu Leibe rücken? Oder zu Laibe? Diesen in das Osterschäfchen einbacken. Mit Puderzucker überstreuen. Auskühlen lassen. Wie mein Mütchen das Anzeige erstatten will. Dann das eingepackte Schäfchen einpacken und der Nachbarin auf die Türschwelle legen. Auf dass nie mehr ein letzter Hahnenschrei erklinge. Sie fortan in Sack und Asche gehen wird. Ich nicht mehr einer Augenblicks-Verlockung erliegen kann.
Gedacht getan.
Achtung! Frisch gestrichen in die Nach-Osterwoche aufbrechen! Einbrechen! Obwohl das Hahnenschrei-Eis durch das Frühjahr längst gebrochen ist. Und tatsächlich, der letzte Hahnenschrei ertönt nicht mehr beim Durchwandern des Scheidewegs 23. Ist abgelöst. Eindeutig ersetzt durch DEN ERSTEN HAHNENSCHREI! Tagein tagaus. Ein Einbruch erster Güte. Wie sehne ich mich nach dem ungebrochenen Eis! An dem sich mein Mütchen und das
Erschauern meiner Hühnerseele endlich wieder abkühlen können …
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