Briskaja

Hund im Schnee

von Sonja Unger

Es ist ein wunderschöner Spätsommertag. Die Luft riecht schon ein wenig nach Altweibersommer.

Wir haben jetzt Anfang September. In manchen südlichen Ländern sagt man, dies sei ein seidiger Monat. Am späten Nachmittag, mit dem allmählichen Sinken der Sonne, scheint die Luft silbrig weich zu flimmern.

Wir haben überraschend Besuch bekommen und etwas länger im Garten gesessen. Briskaja, unsere junge russische Barsoihündin, beginnt in ihrem Zwinger unruhig zu werden.

Sie kennt genau ihre Zeiten und verlangt nach Beschäftigung. Am liebsten hat sie es, wenn sich jemand die Zeit nimmt, mit ihr eine kleine Fahrradtour zu machen.

Brissie, so rufen wir sie meistens, ist jetzt ungefähr zehn Monate alt. Sie verspricht eine sehr schöne Hündin zu werden. Wir haben sie jetzt schon ein halbes Jahr in unserer Obhut, aber sie versteht es immer wieder, uns zu überraschen und mit ihrem Temperament in Atem zu halten.

Wir machen ihren Zwinger auf, und sie stürmt mit ihrem stets hellwachen Spieltrieb voller Lebensfreude in den Garten. Unseren Rasen hat sie schon seit einiger Zeit zum Rennplatz auserkoren. Man sieht es ihm an. Er ähnelt in den Kurven schon sehr einer ausgetretenen Rennbahn. Mit unwahrscheinlichem Tempo läuft Briskaja das Rund der Rasenfläche ab. Wir stehen bei jedem ihrer „Auftritte“ Ängste aus, dass sie sich verletzen könnte.

Unser Barsoi hat einen wunderschönen, schlanken Körperbau und grazile, geschmeidige Bewegungen. Der Kopf ist schmal und elegant, passend dazu ihre kleinen Rosenohren. Samten und dunkel sind die ausdrucksvollen Augen. Die feinen Nasenflügel zittern stets wie in leichter Erregung oder ständiger, aufmerksamer Witterung.

Seidig glänzt das leicht gewellte Fell, das im Grundton weiß ist mit großen lohfarbenen Flecken. In ihrer Haltung erinnert sie uns manchmal an ein junges Fohlen, das erst kurze Zeit auf seinen langen und noch etwas unsicheren Beinen steht.

Als ich neulich mit ihr im Wäldchen war, so nennen wir eine nahe gelegene junge Birkenanpflanzung, traf ich eine ältere liebenswürdige Dame. Sie war Hundeliebhaberin. Sie warnte mich, ein so schönes, junges Tier abzuleinen oder nur für kurze Zeit aus den Augen zu lassen. Doch wer denkt schon immer an die Unberechenbarkeit seines Vierbeiners.

Michael, unser jüngster Sohn, kommt gerade mit seinem Fahrrad aus dem Keller. Ich hole Briskajas Leine vom Haken. Dann sehe ich den beiden noch vom Gartentor aus nach. Michaels Blondschopf ist fast so hell wie die Farbe reifen Weizens. Die Ostseesonne hat es gut mit ihm gemeint.

Seine Haut hat diesen Sommer einen leicht bronzefarbenen Ton. Stolz produziert er sich in engen Jeans und einem buntkarierten Hemd. An der Ecke zum Seepark dreht er sich noch mal um und winkt mir zu, während Briskaja ungeduldig an der Leine zieht.

Wir haben das Glück, in einem relativ ruhigen Stadtbezirk Berlins zu wohnen. Es gibt noch etwas Grün und Ursprünglichkeit. Michael fährt an den Schrebergärten vorüber. Er spürt, dass die Barsoihündin heute recht unruhig ist. Im Wäldchen macht er sie von der Leine los und sie trabt frei und glücklich neben dem Rad.

Doch plötzlich wittert sie Irgendetwas und bleibt hellwach einige Sekunden stehen. Sie spannt ihre Muskeln an und wechselt die Richtung. Unaufhaltsam rast sie über die Wiesen in Richtung Chaussee. Wie immer beim freien Lauf hat sie ihren Kopf stolz erhoben. Die Ohren sind hochgestellt.

Etwas muss sie zutiefst beunruhigt haben. Vielleicht die unmittelbare Nähe des Zwingers in dem sie geboren wurde. Sie ist in ihrem ursprünglichen Element und lässt sich durch Michaels verzweifeltes, lautes Rufen überhaupt nicht beeindrucken. Es ist, als ob nichts zu ihr durchdringt. Der unwiderstehliche Drang zur Jagd und zur Freiheit ist in ihr wachgerufen.

Barsois waren über Generationen und Jahrhunderte Jagd- und Rennhunde in den weiten russischen Wäldern. Mit dieser ererbten Veranlagung und dem Hang zum Ungebundensein rast Briskaja unaufhaltsam, ohne Halt durch die Birken in Richtung Chaussee. Es gibt kein Erwachen mehr aus ihrem kurzen und leidenschaftlichen Ausbruch.

Michael weiß, wo er sie zu suchen hat und eine bittere Angst und Ahnung steigen in ihm auf. Nicht weit vom Zwinger ihres Züchters, den sie vielleicht in ihrer Witterung hatte, liegt sie wie schlafend am Rande der Böschung. Sie war von einem Auto erfasst und zurückgeschleudert worden.

Äußerlich scheint sie unverletzt und ihre Augen sind weit in die Ferne gerichtet. Verzweifelt ruft unser Sohn zu Hause an. Wir können gar nicht so schnell erfassen, was er uns zu sagen hat und sind zutiefst betroffen. Als wir mit dem Auto an der Unglücksstelle ankommen, steht unser Sohn verlassen am Straßenrand, nicht weit vom Birkenwäldchen.
Seine Jungenaugen sind ratlos und unsicher auf uns gerichtet. Es ist für ihn das erste Mal, dass er ein so unerbittliches Ende mit ansehen musste.

Anmerkung der Redaktion: Frau Unger war vo1994 bis zum 31.12.2004 Mitglied der Redaktion.