Expedition zum „Epizentrum“ des Klimawandels
Bild: mdr
von Antje Horn-Conrad
Es ist eine Expedition der Superlative: Am 20. September 2019 startete der deutsche Forschungseisbrecher „Polarsteren“ zu einer mehr als außergewöhnlichen Reise. Ein Jahr lang driftet das Schiff mit dem Eis durch die Zentralarktis, um erstmals auch im Winter eine Region erkunden zu können, die entscheidend für das globale Klima ist.
Als die Wissenschaftler vom Alfred-Wegener-Institut 2011 die Idee dafür entwickelten, hätten sie sich nicht vorstellen können, wie dünn nur wenige Jahre später das Meereis ist und wie warm die Winter bereits sind, berichtete die Direktorin des Instituts, Antje Boetius, zum Start der MOSAiC-Expedition. „Es ist also höchste Zeit aufzubrechen.“ Man ermittle Daten und Bilder einer Region, die sich im Grunde schneller verändere, als man sie erforschen könne.
„Es passiert. Es passiert wirklich“, sagte Forschungsleiter Markus Rex bei der Abschlusspressekonferenz im September in Tromsö. Es fühle sich ein wenig unwirklich an, dass die Arktis-Expedition nach Jahren harter, intensiver Arbeit nun wirklich beginne.
Schneller als erwartet haben die Forscher bereits Anfang Oktober auch eine Eisscholle gefunden, auf der sie das Forschungscamp für die einjährige Drift aufbauen wollen. Ein wichtiger Meilenstein noch vor Einbruch der Polarnacht. Hier kann man die Position des Schiffes verfolgen: https://follow.mosaic-expedition.org
Legendär ist übrigens die Expedition des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen, der 1893 sein eigens für diesen Zweck konstruiertes Forschungsschiff, die „Fram“, einfrieren ließ, um mit seiner Crew durch Nacht und Eis zu driften. Auch wenn er dabei sein Sehnsuchtsziel knapp verfehlte, hatte er mit seiner wagemutigen Reise doch die Existenz der transpolaren Driftströmung beweisen können.
Jetzt, fast 130 Jahre später, wagt also ein internationales Forschungsteam unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) mit der MOSAiC-Expedition eine Neuauflage des Experiments, freilich in weitaus größeren Dimensionen: Die „Polarstern“ driftet fest eingefroren durch das Nordpolarmeer.
Die Wissenschftlerinnen und Wissenschaftler überwintern in einer Region, die in der Polarnacht normalerweise unerreichbar ist, zeitweise nördlich des 87. Breitengrades. Auf einer Eisscholle haben sie ihr Forschungscamp aufgeschlagen und umgeben es mit einem kilometerweiten Netz von Messstationen. Auf diese Weise wollen sie während des Winters erstmals lückenlos Daten in Ozean, Eis, Biosphäre und Atmosphäre erheben.
„Messungen, die wir dringend brauchen, wenn wir den Einfluss der Arktis auf das globale Klima besser verstehen wollen“, sagt Markus Rex. Im internationalen Verbund leitet und koordiniert es diese außergewöhnliche Expedition, die mit noch nie dagewesenen Herausforderungen verbunden ist. Schließlich muss das Team mit Eisbrechern, Helikoptern und Flugzeugen über den Winter hinweg versorgt werden.
Wie wird das dahinschmelzende Eis das Klima tatsächlich verändern?
Die Zentralarktis gilt als „Epizentrum“ des Klimawandels. Nirgends erwärmt sich die Atmosphäre so rasant wie im hohen Norden, der wiederum das Wettergeschehen in unseren Breiten entscheidend mitbestimmt. Doch wie die steigenden Temperaturen und das dahinschmelzende Eis das Klima tatsächlich verändern werden, können die Wissenschaftler heute noch nicht präzise sagen.
Die bisherigen Modelle schwanken zwischen 5 und 15 Grad höheren Temperaturen in der Arktis bis zum Ende des Jahrhunderts, zwischen weiter andauernder Eisbedeckung und totalem Eisverlust. „Jedenfalls wenn wir keine äußerst massive und schnelle Reduktion des weltweiten Ausstoßes von Treibgasen erreichen“, bringt Rex das Problem auf den Punkt.
Um die fehlenden Daten zu erheben und genauer prognostizieren zu können, nehmen er und seine Kollegen von 60 Instituten aus aller Welt die Strapazen einer Überwinterung in Kälte und Finsternis auf sich.
Das Loch im Datennetz der Klimaforschung stopfen
Wie einst die „Fram“ Nansen und seiner kleinen Mannschaft Schutz und Lebensraum bot, so trägt die „Polarstern“ die Wissenschaftler und Besatzungsmitglieder sicher durch das Eis.
Bis zum Rand gefüllt mit modernster Technik ist das Schiff aber nicht nur Herberge, sondern auch Laboratorium, verbunden mit zahlreichen Außenstationen auf dem Eis. Ein fest installierter Fesselballon, der 1,5 Kilometer in die Höhe reicht, sammelt permanent meteorologische Daten. Täglich steigen Ballonsonden in die Atmosphäre. In umgekehrter Richtung geben Bohrungen in die Tiefe Auskunft über Zusammensetzung, Dicke, Deformationen und Schmelzverhalten des Eises. Was passiert, wenn sich die Luft über Rissen im Eis am Ozean erwärmt und weit in die Atmosphäre schießt?
Für Rex ist das nur eine der vielen ungeklärten Forschungsfragen. Auch die Eigenschaften arktischer Wolken sind noch kaum verstanden. Wann kühlen oder wärmen sie? Wie dicht sind die Tröpfchen, wie hoch der Anteil von Eiskristallen? Und was bewirken Ruß und Schwebeteilchen, die Aerosole? Um hier Licht ins Dunkel zu bringen, fährt die internationale Forschungscrew alles auf, was sie an Messinstrumenten zu bieten hat: Mit Radar-, Laser- und Mikrowellentechnik versucht sie, das über der Zentralarktis klaffende Loch im Datennetz zu stopfen. Dank einer ins Eis gebauten Start- und Landebahn und mitgebrachter Treibstofftanke können sogar Flugzeuge aufsteigen, um die Region am Nordpol in den Wintermonaten zu durchmessen.
Eine Tierwelt, die alles übertrifft, was die lebensfeindliche Umgebung vermuten lässt
Auch wenn Fridtjof Nansen nicht annähernd über solche Möglichkeiten verfügte, so war er doch der Erste, der in diesen nördlichen Breiten meteorologische und ozeanografische Daten erhob. Und er betrachtete eine Tierwelt, die alles übertraf, was die lebensfeindliche Umgebung ursprünglich vermuten ließ. So wundert es nicht, dass auf der MOSAiC-Expedition auch Biologen an Bord sind, um die Tiere und Mikroorganismen unter dem Eis zu erforschen.
„Dort, wo im Frühjahr das Eis aufbricht, explodiert das Leben und alles wird grün“, berichtet Rex von früheren Reisen. „Was aber machen Krill und Plankton im Winter? Wie überleben sie die vollständige Dunkelheit der langen Polarnacht unter der geschlossenen Eisdecke? Während der Drift steigt die Sonne 150 Tage lang nicht über den Horizont. Zeit für die Biologen, mit ihren Messungen unter die Eisoberfläche zu schauen und Antworten zu finden.
Ein halbes Jahr lang kann kein Eisbrecher zur „Polarstern“ vordringen
Am 20. September 2019 ist die „Polarstern“ in Norwegen aus dem Hafen Tromsö ausgelaufen. Bevor die Polarnacht anbrach mussten die Wissenschaftler eine passende, mindestens 1,5 Meter dicke Scholle finden, auf der sie ihr Forschungscamp aufbauen konnten. Es entstand eine Siedlung mit Zelten, Wegen und Leitungen, wie eine kleine Stadt.
Insgesamt ist die „Polarstern“ 390 Tage unterwegs und legt 2.500 Kilometer zurück. Während der Eisdrift sind es durchschnittlich sieben Kilometer am Tag. Eisbrecher aus Russland, China und Schweden werden die Scholle in den ersten und letzten Monaten der Expedition anlaufen, um sie mit Treibstoff zu versorgen und Personal auszutauschen. Dazwischen ist das Eis etwa ein halbes Jahr lang so dick, dass kein Eisbrecher zur Polarstern“ vorstoßen kann.
Über das Jahr wechselt fünfmal die Besatzung, sechsmal kommen neue Wissenschaftler an Bord, bevor das Schiff im Herbst 2020 wieder in den Heimathafen einläuft. Beladen mit Messdaten, die das Verständnis von der Arktis nachhaltig verändern werden.
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