Genuss für Volk und Fürsten
Bild: Wikipedia / Frank Liebig
von Hans-Jürgen Kolbe
Als gebürtiger Dresdner war ich lange Zeit der Meinung, dass meine Heimatstadt auch der Ursprungsort des Christstollens ist. Doch wo der erste Stollen tatsächlich gebacken wurde und wer der Schöpfer von Rezept und Form war, ist nicht verbürgt. Kulturforscher und andere Wissenschaftler sind sich aber darin einig, dass der – sagen wir „Ur-Stollen“ — in Sachsen aus dem Ofen gezogen wurde. Und das soll um das Jahr 1300 gewesen sein.
Das Naumburger Innungsprivileg von 1329
Als ältestes schriftliches Vorkommen des Wortes „Stollen“ für ein weihnachtliches Gebäck gilt die Erwähnung in einem Innungsprivileg des Naumburger Bischgofs Heinrichn I. von Grünberg für die Gründung der Bäckerinnung der Stadt. In ihr werden die Naumburger Bäcker neben mehreren in Geld zu zahlenden Abgaben auch zu einer Sachleistung verpflichtet: Abgabe von zwei langen Weißbroten aus einem halben Scheffel Weizen. Im 14. Jahrhundert war dies durchaus eine luxuriöse Weihnachtsverpflegung. Gemessen mit heutigen Maßstäben waren das zwar reichliche, aber schlichte Backwaren, die nur wenig Ähnlichkeit mit dem heutigen Stollen haben.
Erstmals urkundlich erwähnt wird der Dresdner Christstollen 1474 auf einer Rechnung des christlichen Bartolomai-Hospitals. Von weihnachtlichem Hochgenuss war auch zu dieser Zeit noch keine Rede: Das mittelalterliche Fastengebäck bestand lediglich aus Mehl, Hefe und Wasser. Ganz im Sinne des Verzichts erlaubte die katholische Kirche in ihrer Autorität weder Butter noch Milch.
Vom Butterbrief zum Riesenstollen
Da die Sachsen aber schon immer ein Genießervölkchen waren, baten Kurfüst Ernst von Sachsen und sein Bruder Albrecht im Jahr 1450 Papst Nicolaus V., das Butter-Verbot aufzuheben. Die vatikanische Bürokratie stellte die sächsischen Kurfürsten und Bäcker auf eine harte Geduldsprobe. Fünf Stellvertreter Gottes mussten das Zeitliche segnen, bevor im Jahr 1491 Papst Innocenz VIII. den „Butterbrief“ in die Residenzstadt sandte.
Von da an durften die Stollenbäcker auch gehaltvollere Zutaten verwenden. So wurde die Stollenbäckerei immer besser, zumindest in den Gegenden Sachsens, in denen Wohlstand herrschte. Die Einrichtung des Dresdner Striezelmarktes hat wesentlich dazu begetragen, den Stollen weit über Sachsen hinaus bekannt zu machen. Dabei war Dresden noch gar nicht Stollen-Hochburg, die wir heute kennen. Aus der Umgebung, vor allem Meißen und Siebenlehn, kamen Ende des 16. Jahrhunderts die Bäcker mit Wagenladungen Stollen in die kurfürstliche Residenz, was den Dresdner Bäckern alles andere als lieb war.
Doch im Jahr 1730 übertraf August der Starke, Kurfüst von Sachsen und König von Polen alles bisher Dagewesene. Anlässlich des Zeithainer Lustlagers, ein legendäres Fest für mehr als 20.000 geladene Gäste, ließ er von dem Dresdner Bäckermeister Zacharias einen an die 1,8 Tonnen schweren Riesenstollen backen.
Das grandiose Backwerk war von 100 Bäckermeistern und Bäckergehilfen in fast einwöchiger Arbeit vorbereitet worden. Hierzu hatte Hofbaumeister Pöppelmann eigens einen überdimensionalen Stollenofen errichten lassen. Der Teig soll aus 20 Zentnern Weizenmehl, 3.600 Eiern, 326 Kannen Milch, einer Tonne Hefe und einer Tonne Butter zubereitet worden sein. In einem feierlichen Festzug wurde der dampfende Stollen schließlich von acht Pferden durch die Stadt an den Tisch des Königs gezogen. Das Stollenmesser, mit dem der Riesenstollen angeschnitten wurde, war mehr als 1,60m lang und eigens zu diesem Fest geschmiedet worden. Das alljährlich im Dezember stattfindende Dresdner Stollenfest ist in dieser Tradition begründet.
Konjunktur mit Tradition
Stollenhauptstadt – diesen Beinamen könnte Dresden zweifelsohne auch tragen! Wer im November und Dezember in der sächsischen Landeshauptstadt unterwegs ist, wird eines feststellen: Dresdner Christstollen ist allgegenwärtig – und das nicht nur in Cafes und Restaurants oder auf dem altehrwürdigen Striezelmarkt.
Auch in vielen Familien ist man in der Vorweihnachtszeit mit der Stollenbäckerei beschäftigt. Dieser Tradition folgten auch meine Eltern alljährlich, und meine Begeisterung hielt sich oftmals auch in Grenzen, wenn es hieß: Mandeln brühen, dann schälen und danach mit dem Wiegemesser zerkleinern. Als nächstes Zitronat raspeln und die Rosinen nach eventuellen Stielen absuchen. Die Stollenschilder mit unserem Namen und alle Zutaten für den Transport zum Bäcker vorbereiten.
Das Abbacken beim Bäcker war in Sachsen und Thüringen zumindest bis zur Wende in vielen Familien Tradition. Es war ein besonderes Ereignis, wenn dann die Stollen abgeholt wurden. Da wurde keiner – wie heute üblich – schon vor dem Fest angeschnitten. Schließlich sind die Stollen dank ihrer Rezeptur monatelang haltbar. Darauf vertrauend hat meine Oma immer einen Stollen bis Ostern in „Reserve“ gehalten. Dieses weihnachtliche Ostern ist mir eine bleibende Erinnerung.
Stollenfest und Markenschutz
Historischer Ursprung des Stollenfestes ist das Zeithainer Lustlager, das der sächsische Kurfürst August der Starke im Jahr 1730 als opulente Truppenschau veranstalten ließ. Für seine royalen Gäste aus ganz Europa ließ er von Bäckermeister Johann Andreas Zacharias und dessen Bäckerknechten einen 1,8 Tonnen schweren Riesenstollen backen.
Mit dem Stollenfest feiern die Dresdner und ihre Gäste gemeinsam mit den Stollenbäckern den Dresdner Christstollen sowie die Leistungsfähigkeit des Dresdner Bäcker- und Konditorenhandwerks. Mehr und mehr wird das Fest durch die Teilnahme befreundeter Handwerker-Innungen, z. B. Müller, Klempner, Tischler, Schornsteinfeger, auch zu einer Schau traditioneller sächsischer Handwerkskunst.
Mittelpunkt des Stollenfestes ist der etwa drei Tonnen schwere sowie ca. vier Meter lange, zwei Meter breite und einen Meter hohe Dresdner Riesenstollen, der größte Stollen der Welt. Nach seiner feierlichen Enthüllung auf dem Taschenberg fährt der Riesenstollen auf einem vierspännigen Pferdefuhrwerk in einem farbenfrohen, traditionellen Festumzug mit 600 Teilnehmern durch die Altstadt. Unter den Blicken tausender Schaulustiger folgt die Umzugsroute einem Rundkurs durch die Dresdner Altstadt, vorbei an Fürstenzug, Frauenkirche und durch das Georgentor. Ziel des Festumzuges, der aus dem Riesenstollenwagen, weiteren Festwagen, historischen Umzugsbildern, Fanfaren- und Spielmannszügen besteht, ist der Striezelmarkt auf dem Altmarkt.
Die Bezeichnungen Dresdner Stollen, Dresdner Christstollen und Dresdner Weihnachtsstollen wurden im Jahr 2010 auf Antrag Deutschlands als geschützte geographische Angabe nach europäischem Recht eingetragen. Diese Bezeichnungen dürfen demgemäß nur Stollen tragen, die im Großraum Dresden hergestellt werden, und zwar außer in Dresden selbst noch in den Ortschaften Moritzburg, Radebeul, Arnsdorf, Ottendorf-Okrilla, Radeburg Coswig, Pirna, Wachau, Freital, Radeberg, Weinböhla und Heidenau. Gemäß der Produktspezifikation dürfen Dresdner Stollen nicht in Formen gebacken werden und müssen auf 100 Teile Mehl mindestens 50 Teile Butter, 65 Teile Sultaninen, 20 Teile Orangeat und/oder Zitronat und 15 Teile Mandeln enthalten.
Na dann „Guten Appetit“! Ich werde wohl schon vor dem Fest einen Stollen aus meiner Heimatstadt anschneiden.
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