Am seidenen Faden
Bild: Thomas Thobaben / pixelio.de
von Waltraud Käß
Es war der 20. September 1938, als in den USA ein Patent für eine Faser erteilt wurde, die im Reagenzglas entstanden war, und die in den folgenden Jahren sowohl im technischen und im zivilen, als auch im militärischen Bereich Furore machen sollte. Der Chemiker Wallace Hume Carothers, Forschungsleiter des amerikanischen Chemiekonzerns DuPont arbeitete schon seit längerer Zeit auf der Basis von Kohle, Wasser und Luft an der Entwicklung einer Faser, die sehr dünn und trotzdem reißfest sein sollte.
Dass auch ein deutscher Chemiker, Paul Schlack, tätig im Forschungslabor der Kunstseidenfabrik Aceta, einem Betrieb der IG Farben, nach einem Ersatz für Wolle, Seide und Baumwolle suchte, war damals wohl weniger bekannt. Seine Faser erhielt den Namen „Perlon“.
Der US-Amerikaner machte jedoch das Rennen. Seine Faser, „Nylon“ genannt, ebenfalls synthetisch hergestellt, trat ihren Siegeszug um die Welt an. „Nylon und Perlon haben, weil beide zur Gruppe der Polyamid-Fasern gehören, ganz ähnliche Eigenschaften. Der interessierende, entscheidende Unterschied besteht nun darin, dass ich bei meiner Erfindung einen ganz anderen Weg gegangen bin“, sagt Paul Schlack.
Nun konnte mit den Fasern ein sehr dünnes Gewebe hergestellt werden, welches auch verschieden eingefärbt werden konnte. Das erste Produkt, welches in den USA daraus hergestellt wurde, waren Damenstrümpfe. Die Produktion konnte der Nachfrage kaum folgen. Die Zeit der groben, kratzenden Strickstrümpfe aus Wolle oder Baumwolle war endlich vorbei.
Wer erinnert sich nicht an die kratzenden Baumwollstrümpfe seiner Kindheit? Egal, ob Junge oder Mädchen – alle mussten das so genannte „Leibchen“ tragen, an dem lange Strumpfhalter befestigt waren, mit denen die Strümpfe festgeschnallt wurden. Wie oft rissen die Knöpfe an den Strümpfen ab, die man als Kind nicht immer sofort ersetzen konnte. Entsprechend war dann das Erscheinungsbild.
Die Frauen, die das erste, gefertigte Produkt aus der Nylonfaser trugen, waren bestimmt nicht an dem Unterschied zwischen Nylon und Perlon interessiert, den Paul Schlack gefunden hatte. Sie konnten endlich „Bein“ zeigen und sich zu einem bestimmten Zeitpunkt auch des „Korsetts“ entledigen, an dem die Strümpfe mit Strumpfhaltern, oder auch Strapse genannt, befestigt wurden. Die Bemerkung „Mein Hüfthalter bringt mich bald um“, gehörte nun der Vergangenheit an, denn die Zeit der halterlosen Strümpfe nahte und auch die Strumpfhosen waren bereits in der Entwicklung. Spätestens mit dem Modetrend der Miniröcke ab den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts lagen sie in der Gunst der Frauen ganz vorn.
Anfang der 40-er Jahre wurden die ersten Nylonstrümpfe in den USA verkauft. Zunächst waren sie noch etwas blickdichter und mit einer Naht versehen, weil es noch keine Wirkmaschine gab, die das Gewirk als Rundling stricken konnte. Wir Frauen erinnern uns sicher noch gut daran, dass wir uns alle paar Minuten vergewisserten, ob denn unsere Naht noch gerade sitzt, denn nur eine gerade Naht machte ein schönes Bein. Etwa ab dem Jahre 1955 gab es dann die „Nahtlosen“.
Nylon- oder Perlon- oder Dederon- Strümpfe oder-Hosen, diesen Namen trugen sie in der DDR, waren sehr teuer und man musste sie deshalb sehr vorsichtig behandeln. Denn eine andere, große Sorge waren für die Frauen die „Laufmaschen“. Schnell konnte man mit Finger- oder Zehennägeln hängen bleiben und die erste Masche machte sich auf den Weg. Die Reparatur mit einem Klecks Nagellack wurde erfunden, sah aber nicht schön aus. So entwickelte sich eine ganze „Laufmaschenindustrie“. In Handarbeit wurde die Laufmasche mit einer Knüpfnadel aufgenommen, Faden für Faden wurde aufgehoben und dann am Ende mit ein paar Stichen vernäht.
Laut Wikipedia wird die Dichte der Maschen durch die Maßeinheit Denier gekennzeichnet. Die „den-Zahl“ gibt an, wie schwer ein Faden von 9000 m Länge ist. So wird ein 15-den-Strumpf aus einem Garn produziert, dessen Gewicht bei einer Länge von 9000 m= 15 Gramm beträgt.
Dass diese Faser auch im militärischen Bereich Interesse fand, lag auf der Hand. Während des 2. Weltkrieges wurde die Nylonseide ein kriegswichtiger Stoff. Sie wurde für die Fertigung von Fallschirmen, Seilen und Zelten eingesetzt, für Borsten zur Reinigung von Waffen und auch für die Stabilisierung von Flugzeugreifen.
Mit dem Ende des 2. Weltkriegs brachten die amerikanischen Soldaten die „Nylons“ mit nach Europa. Sie wurden ein begehrtes Tauschobjekt auf dem Schwarzen Markt und mancher amerikanische Soldat erkaufte sich mit einem Paar Nylons auch ein wenig Liebe.
In der weiteren Entwicklung stellte sich heraus, dass diese pflegeleichte Faser auch mit Wolle, Baumwolle und Zellwolle zu einem Mischgarn versponnen werden kann. Zukünftig wurden diese Garne vor allem in der Textilindustrie für Strickwaren, Unterwäsche, Uniformen, Arbeitsanzüge, Möbelstoffe, Bett- und Tischwäsche und vieles mehr eingesetzt. Erinnern wir uns noch an die bunten „Dederon-Kittelschürzen“, die für die Arbeit im Betrieb oder im Haushalt in vielen Farben und Modellen hergestellt wurden?
Einige Modelle ähnelten Kleidern, so dass Frauen sie sogar auf der Straße tragen konnten. Sie waren und sind unverwüstlich. Und auch heute noch gibt es eine kleine Firma im Erzgebirge, die diese Schürzen herstellt, sie noch immer an Stammkunden, aber vermehrt auch in die Welt verschickt. Auch Kleider, Herrenanzüge, Hemden – die so genannten „Perlon-Hemden“ für Herren, die man nicht mehr bügeln musste, waren aus dem Alltag nicht mehr weg zu denken.
Die industrielle Verwertung der Faser wurde ebenfalls vorangetrieben.
Gehäusematerial für elektronische Bauelemente, spezielle Dichtungen für Gleitlager, Fischereinetze und Angelschnüre, Federbälle, Bespannung der Tennisschläger, Insektenschutznetze, Autoreifen
und noch viele andere Produkte enthalten diese Faser. Sogar im medizinischen Bereich werden sie vielseitig eingesetzt.
Eine sehr interessante Verwendung findet der Nylonfaden auch im religiösen Bereich. Orthodoxe Juden umrahmen ein festgelegtes Areal einer Stadt, welches mehrere Quadratkilometer betragen kann, z.B. betrifft das einen Teil des Stadtteils Manhattan in New York, mit einer (fast) unsichtbaren Angelschnur.
Aber dieses Ritual gibt es auch in anderen Städten mit einem hohen Bevölkerungsanteil jüdischen Glaubens. Diese Schnur wird von Straßenlaterne zu Straßenlaterne gespannt und trägt den Namen „Eruv“. Der Grund: Diese Umrahmung, eine unsichtbare Mauer sozusagen, darf auf keinen Fall unterbrochen sein, denn sie ist die Garantie dafür, dass die Juden in diesem Areal auch am Sabbat Dinge mit sich tragen können, die eigentlich an diesem arbeitsfreien Ruhetag verboten sind.
Es darf z.B. kein Gegenstand in der Hand getragen werden, beispielsweise eine Tasche. Das darf man zwar in der Wohnung tun, aber keinesfalls auf der Straße. Das ist ein Verstoß gegen die Sabbat-Regeln. Wahrscheinlich wurde diese Regel irgendwann mal als störend empfunden. Und so hat man den Begriff des Wohnbereiches flexibilisiert, erweitert und nach draußen verlegt. Deshalb wird dieser „Eruv“ gespannt und wöchentlich vor dem Beginn des Sabbats auf seine Unversehrtheit geprüft und bei Bedarf repariert. Sicher eine zeitaufwendige Aufgabe.
Was würden wohl die beiden Erfinder heute zu all diesen Verwendungsmöglichkeiten sagen? Sie wären wohl zugleich verwundert und begeistert. .
Wie schön, dass vor 80 Jahren zwei kluge Chemiker diesem „Wunderfaden“ auf die Spur gekommen sind.
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