Das Tunguska-Ereignis: Noch nach 110 Jahren viele ungelöste Rätsel
Bild: Wikimedia - gemeinfrei
von Tristan Micke
Am strahlenden Sommermorgen des 30. Juni 1908 sahen Fahrgäste der Transsibirischen Eisenbahn zwischen Krasnojarsk und Irkutsk kurz nach 7 Uhr Ortszeit am wolkenlosen Himmel plötzlich eine „zweite Sonne“.
Ein Feuerball bewegte sich am östlichen Horizont von Süd nach Nord, einen Schweif aus Feuer und Rauch nach sich ziehend. Kurz nach dem Verschwinden des Feuerballs am Horizont waren um 7 Uhr 17 mehrere Explosionen vernehmbar und bis in eine Entfernung von 1000 Kilometern zu hören.
Erdbebenwellen wurden überall auf der Welt messbar und eine Luftdruckwelle umkreiste mit Schallgeschwindigkeit den Erdball. Sie war, wenn auch schwach, selbst auf Barogrammen (Aufzeichnungen des Luftdrucks) im Geophysikalischen Institut in Potsdam erkennbar. Die Druckwelle war dort, von Osten her den kürzesten Weg nehmend, 4,5 Stunden nach dem Ereignis eingetroffen.
Die aus Westen kommende Gegenwelle erreichte Potsdam nach einer Erdumrundung knapp 26 Stunden später. Fünf Minuten nach den Explosionen wurden für vier Stunden Störungen im natürlichen Magnetfeld der Erde festgestellt.
Das betroffene Gebiet war weit abgelegen und damals nur von wenigen Ewenken besiedelt. In der ca. 65 Kilometer entfernten Faktorei Wanawara, der nächsten Siedlung überhaupt, wurden von der Druckwelle noch Fensterscheiben und Türen eingedrückt. Man stellte später fest, dass die Explosionen die Sprengkraft einer mittleren Wasserstoffbombe hatten.
Die darauf folgenden Nächte waren in Osteuropa und in Skandinavien ungewöhnlich hell. Im Kaukasus konnte noch um Mitternacht im Freien Zeitung gelesen werden. Außerdem wurden Polarlichter beobachtet. Die Nächte verdunkelten sich erst allmählich wieder, es dauerte zwei Monate, bis sich der Normalzustand eingestellt hatte. In Kalifornien dagegen war die Sonne am Tage verdunkelt.
Das Interesse an der Aufklärung dieses mysteriösen Vorfalls war zunächst nicht groß. Die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse im Zarenreich bereiteten den Menschen andere Probleme. Außerdem waren die Kommunikationsmöglickeiten noch mangelhaft. Erst 1927 gelang es einer russischen Expedition, in dem unwegsamen Gelände den genauen Ort der Explosionen auszumachen. Sie wollte dort die vermeintlichen Spuren eines Meteoriteneinschlags untersuchen, stieß aber nur auf mehrere sumpfige Löcher, mit einem Durchmesser von maximal 50 Metern.
Diese entsprachen den normalen Strukturformen der Dauerfrostbodenlandschaft. Obwohl inzwischen fast zwanzig Jahre vergangen waren, wiesen die Bäume in diesem Gebiet jedoch noch Spuren des Ereignisses auf. Im Umkreis von 5 bis 10 Kilometern hatten alle Bäume ihre Äste verloren und die Baumkronen waren verbrannt oder versengt. Viele Bäume sahen wie Telegrafenmasten aus.
An dieses Zentrum schloss sich, etwas vom Mittelpunkt abweichend, ein fast kreisförmiges Gebiet von annähernd 40 Kilometern Durchmesser an, in dem die meisten Bäume strahlenförmig nach außen umgelegt waren. Bis zum Ende der Sowjetunion reisten insgesamt 33 Expeditionen in diese Region, die auch keine Meteoritenkrater oder -reste ausmachen konnten.
Es wurden aber winzige glasartige Kügelchen aus Magnetit und Silikat gefunden und Bodenproben hatten einen hohen Natrium- und Siliziumanteil. Baumringe aus dem Jahr 1908 wiesen Anomalien auf. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war es auch ausländischen Wissenschaftlern möglich, in diese Region zu kommen, die vorher Sperrgebiet war. Der Ort des Ereignisses liegt in einem uralten vulkanischen Gebiet. So haben die Forscher die schwierige Aufgabe, herauszufinden, ob die wenigen Spuren vulkanischen oder kosmischen Ursprungs sind.
Was sich an jenem Junitag 1908 an der Steinigen Tunguska, einem Nebenfluss des Jenissej, ereignete, ist bis heute rätselhaft. Fast 100 Hypothesen und Spekulationen gibt es, die mehr oder weniger ernst zu nehmen sind und alle nicht hundertprozentig befriedigen. Sie reichen vom Absturz eines außerirdischen Raumschiffs, der Einwirkung von Antimaterie, der Kollision der Erde mit einem kleinen Schwarzen Loch, über eine nukleare Explosion (natürlichen oder künstlichen Ursprungs), dem Ausströmen und Entzünden von unter hohem Druck stehenden Erdgases aus Bodenspalten, bis zum Einschlag eines Asteroiden oder Kometenbruchstücks, wobei die Kometenhypothese bisher als die wahrscheinlichste gilt.
Die Wissenschaftler Fred Lawrence Whipple aus den USA (1930) und Igor Astapowitsch aus der damaligen Sowjetunion (1933) waren die ersten, die an den Einschlag eines kleinen Kometen oder Kometenbruchstücks glaubten, welches in großer Höhe über dem Erdboden explodierte. Weitere führende Meteoritenforscher erhärteten später diese, von den meisten Fachleuten vertretene Meinung. Nach ihren Erkenntnissen verlief das Tunguska-Ereignis wie folgt:
Am 30. Juni 1908 raste ein Komet oder Kometenbruchstück von ca. 30 bis 80 Metern Durchmesser und der geringen Dichte von 0,1 im Vergleich zum Wasser mit 40 Kilometern je Sekunde Geschwindigkeit im spitzen Winkel auf die Erdoberfläche zu. In den dichteren Atmosphärenschichten, in etwa 120 Kilometern Höhe, begann die Auflösung des Brockens bzw. lockeren Eis- oder Steinhaufens durch die Reibungshitze und die vor ihm aufgestauten Luftmassen.
Dabei bildete sich der riesige Rauch- und Feuerschweif. In etwa 8 bis 10 Kilometern Höhe explodierte das kosmische Geschoss, seine Materie wurde zerstäubt, nach oben geschleudert und verursachte dann in den 350 bis 600 Kilometer hohen Atmosphärenschichten das starke Nachtleuchten durch Reflexion des Sonnenlichts. Später verbreitete sich der Staub in den oberen Schichten der gesamten Erdatmosphäre und verdunkelte am Tage die Sonne. Nur eine Druck- und Feuerwelle wirkte fast senkrecht nach unten, wobei die Bäume im Zentrum der Zerstörungen Feuer fingen. In zunehmender Entfernung wirkte die Druckwelle seitlich auf die Bäume und legte sie strahlenförmig nach außen um.
Doch auch mit dieser Hypothese ist das Tunguska-Ereignis nicht völlig erklärbar, denn einige Augenzeugen behaupteten, das Flugobjekt sei zylinderförmig, blassblau leuchtend gewesen und hätte vor seinem Absturz zweimal die Flugrichtung gewechselt. Hatte es sich vielleicht um mehrere in die Atmosphäre eindringende Objekte gehandelt, die aus unterschiedlichen Richtungen kamen und von verschiedenen Zeugen gesehen wurden?
War es doch etwas ganz anderes als ein Komet oder Kometenteil? Auch nach 110 Jahren gibt dieses Ereignis, in einem zum Glück weit abgelegenen und damals kaum besiedelten Gebiet der Erde, der Wissenschaft noch immer Rätsel auf, zumal in der Menschheitsgeschichte ähnliche Fälle, in denen keine greifbaren Rückstände gefunden wurden, vor- und nachher nicht beobachtet worden sind.
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