Geschichte mit anderen Augen gesehen
Bild: Bundesregierung, Klaus Lehnartz
von Daniela Lange
„Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“: Mit diesem ungewöhnlichen Ansatz geht das Deutsche Historische Museum ab dem 9. Dezember 2022 neue Wege der Geschichtsbetrachtung. Ausgehend von zentralen Schlüsseldaten der deutschen Geschichte präsentiert das Museum einen Rückblick auf einschneidende historische Ereignisse von 1989 bis 1848. Dabei werden tatsächlich erfolgten Wendungen mögliche Verläufe gegenübergestellt, die aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht eingetreten sind.
Entlang von 14 markanten Einschnitten in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erkundet der Historiker Dan Diner die Wahrscheinlichkeiten von ausgebliebener Geschichte – verhindert von Zufällen, abgewendet durch Fehlzündungen oder Unzulänglichkeiten anderer Art. Eben das, was in der Geschichtsphilosophie als Kontingenz verstanden wird. Dabei wird keineswegs eine alternative Wahrheit verbreitet oder gar eine kontrafaktische Geschichtserzählung entworfen. Es geht in der neuen Ausstellung vielmehr darum, wie wahrscheinlich eine im Geschehen angelegte Entwicklung gewesen wäre, die der Geschichte eine andere Richtung gegeben hätte.
Diese für ein historisches Museum ungewohnte Perspektive soll es ermöglichen, bekannte Fakten in neuem Licht zu sehen und den Blick für die grundsätzliche Offenheit von Geschichte als Ergebnis von Konstellationen und Entscheidungen, von Handlungen und Unterlassungen zu schärfen. Auf 1000 Quadratmetern veranschaulicht die Ausstellung nach einer Idee von Dan Diner ihren Besucherinnen und Besuchern, dass Geschichte keine lineare Erzählung ist – sondern vielmehr eine Aneinanderreihung von mehr und weniger wahrscheinlichen Szenarien.
Der Reigen dieser Einschnitte beginnt im Jahr 1989 mit der Friedlichen Revolution in der DDR und endet im Jahr 1848, als Deutschland erstmals den demokratischen Aufbruch wagte. Die Ausstellung greift in umgekehrter Reihenfolge Themen wie Ostpolitik, Mauerbau, Kalter Krieg, die Machtübernahme der Nationalsozialisten oder Revolution und Demokratisierung an entscheidenden Kipppunkten auf – und erläutert, dass es keineswegs hätte kommen müssen, wie es schließlich kam. Auf diese Art und Weise erscheinen Wegmarken wie die Stalinnoten von 1952, der Koreakrieg 1950, die Berliner Luftbrücke 1948/49, das Attentat auf Adolf Hitler 1944, die Rheinlandbesetzung 1936, die Machtübertragung auf Hitler 1933, der Sturz von Reichskanzler Brüning 1932, die Revolution 1918, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 oder der Deutsche Krieg 1866 in einem neuen Licht.
Die unerwartete historische Wendung des Jahres 1989 verdeutlicht exemplarisch das Spannungsverhältnis von Geschichte gewordener Wirklichkeit und nicht realisierten Möglichkeiten: Die meisten Menschen empfanden den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 als Glücksfall. Die auf der Mauer Tanzenden waren das ikonografische Bild einer Friedlichen Revolution ohne den Einsatz staatlicher Gewalt. Doch dieser Ausgang war nicht selbstverständlich. Als erster Staat hatte die DDR offiziell das Vorgehen der chinesischen Führung gegen die Demonstrierenden auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 gebilligt. Ein Militäreinsatz gegen die aufbegehrende Bevölkerung schien auch in der DDR nicht ausgeschlossen, galt sogar als wahrscheinlich.
Nicht eingeschlagene Wege sind also das zentrale Motiv der Ausstellung – die unterschiedlich nahe und ferne historische Szenarien beleuchtet, ohne die geschehene Geschichte umschreiben zu wollen. Im besten Fall erfahren die Besucherinnen und Besucher etwas über Dilemmata der Handelnden, über historische Verantwortung und Schuld. Über all dem, und das macht die Gegenwärtigkeit dieser Ausstellung aus, steht die Frage nach individuellen Handlungsspielräumen: Die Entscheidungen einzelner Personen können den Verlauf von Geschichte verändern. Und nicht zuletzt lädt die Ausstellung ihr Publikum dazu ein, etwas über historisches Urteilen zu lernen – und sei es eben nur im Nachhinein.
Abschließend führt die Ausstellung in die Gamestation „Herbst 89 – Auf den Straßen von Leipzig“. In der interaktiven Graphic Novel schlüpfen die Museumsgäste in die Rollen von sieben Charakteren und durchlaufen aus unterschiedlichen Perspektiven die friedlichen Proteste am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Dabei treffen sie konkrete Entscheidungen und beeinflussen den weiteren Verlauf der historischen Ereignisse.
Anhand von rund 500 Gemälden, Zeichnungen, Grafiken, Skulpturen, Dokumenten, Münzen, Fotografien, Publikationen, Plakaten, Zitaten, Filmausschnitten, Tonaufnahmen und interaktiven Stationen entfaltet sich gegen die chronologische Erzählung das Bild einer glücklich verlaufenen Geschichte der vereinten Bundesrepublik, die keineswegs zwangsläufig war, sondern vielmehr von vielen Weggabelungen geprägt ist.
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