Die wechselvolle Geschichte der Finckensteinallee 63 - Teil IV

Großes Gebäude

von Waltraud Käß

Der Teil III dieser Serie endete mit dem Auszug der Alliierten Streitkräfte im Sommer 1994 aus den Andrews Barracks in Berlin-Lichterfelde. Die politische Entscheidung zu diesem Standort fiel zu Gunsten einer zukünftigen, zivilen Nutzung aus. Und genau zu diesem Zeitpunkt trat eine deutsche Behörde auf die Bühne dieser Geschichte, das „zentrale Archiv“ der Bundesrepublik Deutschland, das Bundesarchiv.

Schon länger suchte die Behörde gemeinsam mit dem Bundesministerium des Innern (BMI) und der Oberfinanzdirektion Berlin im Berliner Raum nach einem zentralen Standort und hatte sich für das Gelände der ehemaligen Hauptkadettenanstalt beworben.

Es waren dem Bundesarchiv seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im Jahre 1990 „Neuzugänge“ aus der Archivlandschaft der DDR zugefallen. Dezentralisiert befanden sich Archive und Bibliotheken der DDR im Land Brandenburg und in Berlin. So wurde ein zentraler Standort gesucht, der den zu erwartenden Flächenbedarf für Archiv- und Bibliotheksgut bot.

Die Argumente müssen wohl zwingend gewesen sein, denn die Entscheidung fiel zu Gunsten des Bundesarchivs aus. Anfang Oktober 1994 nahm eine Projektgruppe der Behörde zur Vorbereitung der Zusammenführung ihre Arbeit auf. Damit schloss sich auch ein Kreis. Denn bereits im Jahre 1920 (siehe Teil II) hatte das Reichskolonialamt vorgeschlagen, das im Jahre 1919 gegründete Reichsarchiv auf dem Gelände der HKA unterzubringen, nachdem die Hauptkadettenanstalt entsprechend des Versailler Vertrages geschlossen wurde. Das konnte aus bekannten Gründen nicht realisiert werden.

Um zu verstehen, warum für das Bundesarchiv ein großer, zentraler Standort in Berlin so notwendig war, muss die geschichtliche Entwicklung des Archivs zwischen 1919 und 1945 und zwischen 1946 und 1990 punktuell beleuchtet werden.
Ebenso wie in der DDR gab es in der Bundesrepublik mehrere Dienstorte eines Archivs. Dienststellen befanden sich in Koblenz (Hauptsitz des Bundesarchivs), Frankfurt am Main, Aachen-Kornelimünster, Bayreuth, Freiburg, Sankt Augustin, um die wichtigsten zu nennen. Diese Zersplitterung wollte man nun in Berlin/Brandenburg verhindern.

Das im Jahre 1919 gegründete Reichsarchiv war in Potsdam eingerichtet worden und sollte die Akten der zivilen und militärischen Organe des Deutschen Reiches seit 1867 aufnehmen.

Im Jahre 1924 wurde in Frankfurt am Main eine Dienststelle für die Aufnahme von Schriftgut des Deutschen Bundes und des Reichskammergerichts eingerichtet.
Im Jahre 1935 erfolgte die Gründung des Reichsfilmarchivs.
Nachdem mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1949 zwei deutsche Staaten entstanden waren, stellte sich die Frage der Sicherung der nun zu verwaltenden Aktenbestände anders.

Die Bundesrepublik Deutschland richtete im Juni 1952 mit Sitz in Koblenz das Bundesarchiv ein. Die Dienststelle Frankfurt am Main wurde eingegliedert. Im Jahre 1955 wurde eine Abteilung Militärarchiv eingerichtet, die im Jahre 1968 als Dienststelle Militärarchiv in Freiburg etabliert wurde. In Rastatt eröffnete das Bundesarchiv im Jahre 1974 eine „Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte“. Und im Jahre 1986 wurde in Bayreuth ein Lastenausgleichsarchiv eingerichtet. Dort wurden die Unterlagen aus dem Bereich des Kriegsfolgerechts – Lastenausgleich nach 1945- bearbeitet.

In der Sowjetischen Besatzungszone wurde im Jahre 1946 das Deutsche Zentralarchiv aus der Taufe gehoben. Es hatte in der Tradition des Reichsarchivs seinen Sitz in Potsdam. Im Jahre 1973 erhielt es den Namen „Zentrales Staatsarchiv“. Durch das Zentralarchiv wurden im Jahre 1946 und danach die geretteten Bestände des ehemaligen Reichsarchivs übernommen. Darüber hinaus mussten die Aktenbestände aus Rückführungen der vorübergehenden Beschlagnahme durch die Sowjetunion gesichtet, gesichert und untergebracht werden.

In den Jahren 1955 und 1964 wurden in der DDR das „Staatliche Filmarchiv“ und das „Militärarchiv“ eingerichtet.
Die USA, Großbritannien und Frankreich gaben ihr beschlagnahmtes bzw. gerettetes Schriftgut an die Bundesrepublik Deutschland zurück. An dieser Stelle muss eingefügt werden, dass sich darunter das Schriftgut der NSDAP, ihrer Verbände und Gliederungen befand.

Diese Unterlagen wurden im streng bewachten „Berlin Document Center“ in Berlin-Zehlendorf untergebracht und bearbeitet. Erst im Juli 1994 wurde diese Dienststelle dem Bundesarchiv eingegliedert und die Übergabe der Aktenbestände in einem Regierungsabkommen zwischen den USA und der Bundesrepublik geregelt.

Dass mit dem 3. Oktober 1990 und entsprechend des Einigungsvertrages auch die Archive der beiden deutschen Staaten zusammen kommen würden, stand zu diesem Zeitpunkt als Herausforderung vor den entsprechenden Organen, war aber in seiner Dimension noch gar nicht zu überblicken. Neben den dezentralisierten Dienststellen des Bundesarchivs im westlichen Teil waren im östlichen Teil neben dem Zentralen Staatsarchiv, dem Staatlichen Filmarchiv, dem Militärarchiv noch eine Vielzahl anderer Archive aufzulösen bzw. zu integrieren.

Dazu gehörte z.B. auch das Parteiarchiv der SED, des FDGB, der FDJ, Archive der Verbände und Massenorganisationen der DDR, das Bildarchiv des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes (ADN), um nur einige zu nennen – es war eine komplexe und komplizierte Aufgabe, die manch politischer Entscheidung und vieler Kämpfe zum Erhalt des Archivgutes nicht nur ostdeutscher Historiker bedurfte. Von der Übernahme der beschäftigten Mitarbeiter ganz zu schweigen.

Diese Zersplitterung der Bestände, Standorte und Mitarbeiter sollte es für die Zukunft nicht mehr geben. Ein Prozess, der sich über einige Jahre hinzog.
Aus der Gesamtliegenschaft der ehemaligen Andrews Barracks erhielt das Bundesarchiv neun Gebäude, Anlagen, Gehwege und Straßenflächen. Der südliche Bereich des riesigen Areals wurde bei Übernahme durch das Bundesarchiv ausgegliedert. Hier entstand das neue „Schweizer Viertel“, eine Mischung aus Wohn-,Reihen- und Einfamilienhäusern sowie Stadtvillen.

Bei ersten Begehungen des Geländes und der Gebäude wurde ein ungeheurer Sanierungsbedarf festgestellt. Der Tagesspiegel schreibt z.B. am 17.10. 1994: „Nur die Erinnerungen an die GIs sind geblieben. Menschenleer ist der weite Appellplatz hinter dem Eingangsportal. Der ehemalige Friendship Pub wirkt ebenso trostlos wie der ganz in dunkelgrün gehaltene Speisesaal, in dem die GIs einst ihre „candlelight dinners“ abhielten. In all ihrer Leere sehen die Räume jetzt schäbig und heruntergekommen aus…Jetzt muss diese umfassende Anlage vor der Verwahrlosung bewahrt bleiben.“

Damit hatte auch die Öffentlichkeit einen Eindruck vom Ausmaß der in der Zukunft zu leistenden Anstrengungen erhalten. So wundert es nicht, dass in einem ersten Schritt ehemalige, zivile Mitarbeiter der amerikanischen Streitkräfte vom Bundesarchiv eingestellt wurden. Sie verfügten über Ortskenntnisse und hatten das notwendige Insiderwissen über die Gebäude und technischen Anlagen.

Die Vorbereitung der Räumlichkeiten für die Aufnahme von Kilometern Archiv- und Bibliotheksgut war das am schwierigsten zu lösende unter vielen anderen Problemen. Für die Ausstattung der Räume als Magazinräume mit Regalen und ihrer Belegung mit Schrift- und Bibliotheksgut stand eine ausreichende Verkehrslast der Geschossdecken nicht zur Verfügung. Für jeden Raum musste somit ein statischer Einzelnachweis erarbeitet werden, um eine Lastüberschreitung zu vermeiden. In keinem der mehrgeschossigen Gebäude gab es Fahrstühle, das Archivgut bedarf besonderer klimatischer Bedingungen, die ebenfalls nicht gegeben waren. Man musste sich behelfen.

Der Finanzbedarf ging in die Millionen – und bei klammen Kassen ist das Gesamtkonzept bis heute nicht vollständig umgesetzt. Aber man sagt ja, dass sich Provisorien am längsten halten – irgendwie läuft es schon.
Die Umzüge der Archivbestände und des Bibliotheksgutes aus den Dienststellen des Berliner Raumes begannen im Juli 1995 und dauerten etwa ein Jahr.

Die „Andrew Chapel“, die kleine Kirche im vorderen Bereich der Anlage nahm den Lesesaal der Bibliothek auf und wird immer wieder bewundert. Im Gebäude 901 etablierte sich der Lesesaal des Archivs, der jeden Tag durch nationale und internationale Besucher bevölkert wird. In allen Gebäuden gibt es Magazinräume. Ein altes Magazingebäude musste inzwischen einem Neubau weichen – ständig wird auf dem Gelände gebaut. Wie gesagt, das Gesamtkonzept ist noch nicht vollendet.

Mit der Umbenennung der Bushaltestelle „Kadettenweg“ in „Bundesarchiv“ im Jahre 1997 ist der Standort des Bundesarchivs für Besucher und Benutzer auch im Stadtbild besser zu identifizieren. Die Einwohner des Stadtbezirks und auch viele andere Gäste hatten schon mehrmals Gelegenheit, bei einem „Tag der Offenen Tür“ Gelände und Gebäude zu besichtigen, wobei das Interesse immer sehr groß ist.
Das Gelände und die Gebäude der Finckensteinallee 63 haben nun ihre endgültige Bestimmung erhalten.
Damit beende ich diese Serie.