Unbekanntes Marzahn

Häuser mit einem Krahn der ein Bauelement befördert

von Tristan Micke

Am 30. Dezember 1976 wurde die S-Bahn-Strecke nach Marzahn eröffnet. So konnte ich als Triebfahrzeugführer bei der S-Bahn vom Führerstandsfenster aus das Entstehen des neuen Stadtbezirks beobachten.

Mit Kurzzügen fuhren wir damals von Warschauer Straße bis Marzahn und zurück. Scherzhaft tauften wir den Bahnhof Springpfuhl in „Schlammpfuhl“ um, denn dieser Name schien besser zu dem noch unbefestigten Umland zu passen.

Als in Marzahn gerade die ersten Neubaublocks bezogen waren, gab es nur wenige Fahrgäste auf der gerade erst eröffneten Strecke. Auf dem Streckenabschnitt Friedrichsfelde Ost – Marzahn waren die Züge so gut wie leer. Nur einige Bauarbeiter und Arbeiter der ehemaligen Werkzeugmaschinenfabrik in Marzahn fuhren zum Schichtwechsel mit.

Dann gab es noch Fahrgäste, die eigentlich in Richtung Mahlsdorf wollten und nicht auf den Fahrtrichtungsanzeiger geachtet hatten. Schließlich waren in Friedrichsfelde Ost immer alle Züge in Richtung Mahlsdorf gefahren, denn den heutigen Abzweig in Richtung Springpfuhl gab es vorher nicht.

Man war es einfach nicht gewohnt, dass Züge hier abbiegen konnten. So erging es auch einem sieben- bis achtjährigen Jungen, der den Zug in Richtung Mahlsdorf bzw. Strausberg vorausgesetzt hatte und der sich plötzlich auf dem ihm unbekannten Bahnhof Marzahn wiederfand. Als ich für die Rückfahrt am Bahnsteig in Marzahn zum anderen Ende des Zuges ging, kam mir der Junge tränenüberströmt entgegen.

Auf meine Frage, was denn los sei, antwortete er, dass er eigentlich nach Mahlsdorf wolle. Und über Marzahn sei er bisher noch nie gekommen! Ich konnte ihn schnell trösten, indem ich ihm erklärte, dass er eine neue S-Bahn-Strecke gefahren sei, was gar nicht so schlimm wäre.

Er brauche doch nur mit demselben Zug wieder zurück nach Friedrichsfelde Ost fahren, wo er dann in den Zug Richtung Mahlsdorf umsteigen könne. Im gleichen Augenblick stieg ein junger Mann verwundert aus dem ungewohnt lange haltenden Zug und fragte irritiert, in welchem „Nest“ er hier eigentlich sei.

Er hatte sich also auch verfahren! Nun sah der Junge, dass sein Missgeschick auch einem Erwachsenen passiert war. Wir drei mussten lachen und fuhren zurück nach Friedrichsfelde Ost, wo die beiden ihren Anschluss fanden.

Der Junge von damals ist heute sicher ein gestandener Familienvater und die S-Bahn-Strecke wurde längst bis nach Ahrensfelde verlängert. In diesem Gebiet ist ein neuer Stadtbezirk entstanden, in dem Tausende von Menschen ihr Zuhause haben.