Warum denn in die Ferne schweifen…

Eine Hausfassade mit Fenstern

von Waltraud Käß

Warum sich in vollen Zügen der Deutschen Bahn dem Osterreiseverkehr aussetzen? Warum nicht mit der S-Bahn gemütlich das nahe liegende Berliner Umland erkunden? Ich entschied mich für letztere Variante.

Mein Finger fuhr in großem Bogen über das Verkehrsnetz von S- und U-Bahn und blieb über einem Namen hängen, der sofort mein Interesse weckte: Waidmannslust. Er klingt nach Natur, Wald, Jagdgründen mit viel Wild und der Freude des Jägers, wenn er erfolgreich war, die ich übrigens nicht teilen kann.

Allerdings erachte ich die pflegerische Arbeit des Jägers für notwendig.
Der Ortsteil liegt unweit von Birkenwerder, auch nicht weit entfernt von Oranienburg. Mit der

S 1 ab Friedrichstraße oder mit der S 85 ab Ostkreuz ist er gut und schnell zu erreichen. Letztere Verbindung gibt es aber nicht an Samstagen, Sonn- und Feiertagen.

So machte ich mich am Vormittag des Ostersamstag auf den Weg. Je mehr ich mich dem Stadtzentrum näherte, wurde deutlich, dass die Stadt voller Touristen war. An jeder Station stiegen große und kleine Gruppen ein und aus, viele Reisende mit Stadtplänen in den Händen, das Sprachengewirr war international.

Vom Zug aus überblickte ich aus dem Fenster den Alexanderplatz, der voller Menschen war, die wie Ameisen durcheinander wuselten. Die Ziele ihres persönlichen Osterspaziergangs liegen eng beieinander – Galeria Kaufhof, Saturn und Alexa.

Ab Friedrichstraße führt die Strecke über Nordbahnhof, Humboldthain, Bornholmer Brücke, die im Herbst 1989 eine Rolle bei der Grenzöffnung spielte, Wilhemsruh bis nach Waidmannslust. Der Zug nach Oranienburg war in meiner näheren Umgebung nur mäßig besetzt.

Ich bemerkte einen Mann, der sich sehr ungeniert, mit der Bierflasche in der Hand, in einer Ecke des linken Abteils niedergelassen hatte. Dem Osterwasser schien er schon reichlich zugesprochen zu haben, denn er sprach mit seiner Bierflasche.

Ihm gegenüber befand sich ein jüngerer Mann, den das nicht zu stören schien. Aus den Stöpseln in seinen Ohren führten weiße, dünne Kabel zu einem Smartphone, welches er fleißig bediente.

Das nächste Abteil war mit einer Frau besetzt, die mit zwei Einkaufsbeuteln am Bahnhof Friedrichstraße zugestiegen war. Nachdem sie saß, schien der Griff zum Handy absolut notwendig zu sein. Zwei Verbindungen kamen nicht zustande. Das machte sie unwirsch. Bei der dritten hatte sie Glück.

“Hast du schon den Hasen gefüttert?” hörte ich ihre Frage. Die Antwort schien sie nicht zu befriedigen. “Was, es sind keine Möhren mehr da. Darum solltest du dich doch kümmern.” Ich hörte mit, aber es interessierte mich nicht. Wieder die schrille Stimme. die sich zu steigern schien. “Aber ich muss immer Zeit haben.

Um alles muss ich mich kümmern. Hier stehen schon zwei volle Einkaufsbeutel. Ach, wenn man nicht alles alleine macht. Ja, ich gehe noch am Gemüsemarkt vorbei. Aber das eine sage ich dir, deine Eier kannst du alleine färben.” Mit zornrotem Gesicht schloss sie die Klappe des Handys, meinem Blick wich sie demonstrativ aus,obwohl ich ihr mitleidsvoll zunicken wollte.

Am Humboldthain stieg eine junge Frau zu, die mir gegenüber Platz nahm. Was heißt Platz nahm? Sie schmiss sich auf den Sitz, knallte ihre große, bunte Tasche neben sich, drückte eine Blase Kaugummi aus dem Mund, griff zum Handy, und wieder wurden anderer Leute Sorgen meinem Ohr zugeführt.

Ich entnahm den ersten Worten, dass sie einen Stromanbieter suchte. “Wie ich auf sie gekommen bin? Meine Mutter und meine Schwester sind auch Kundinnen bei Ihnen. Ich habe eine Wohnung gemietet. Bis jetzt habe ich in einer WG gewohnt, bin aber froh, da endlich raus zu kommen.”

Stille, aber nicht lange. “Den Vormieter? Kenne ich nicht. Die Verwaltung hat mir nur den Vertrag und den Schlüssel in die Hand gedrückt.” Stille. “Meine Adresse?” Sie nannte die volle Adresse der neuen Wohnung und fügte noch hinzu, dass die Straße in Spandau läge. “Meine Handy-Nr.?”

Sie nannte ihre Handynummer und bedankte sich dafür, dass man ihr die Unterlagen zuschicken würde. Die Fassungslosigkeit in meinem Blick nahm sie nicht wahr. Meine kriminelle Phantasie begann zu blühen.

Was, wenn ein Bösewicht diese Angaben mit gehört hätte? Ihr irgendwann auflauern würde? Mein Blick ging zu dem jungen Mann mit dem Smartphone, aber der schien unbeeindruckt von seiner Umgebung seine eigenen Recherchen anzustellen. Sein Gegenüber unterhielt sich inzwischen mit der zweiten Bierflasche. Reisen bildet eben. Man lernt so interessante Typen kennen.

Der Bahnhof Waidmannslust und die Brücken über den Waidmannsluster Damm stehen unter Denkmalschutz. So steht es in der Chronik des Ortsteils. Am 20. Mai 1884 wurde dieser Haltepunkt an der Berliner Nordbahn eingerichtet.

Die Strecke führte damals von Berlin über Neustrelitz und Neubrandenburg nach Stralsund und war eine wichtige Verbindung für die Berliner Wirtschaft. Ausgetretene Treppenstufen führen aus dem Bahnhofsgebäude, es ist, als sei die Zeit stehen geblieben.

Ich überquere den Damm, sehe rechter Hand eine Buchhandlung/Cafe mit dem Namen “Leselust”, was natürlich meine Neugier weckt. Hier kann man stöbern, Bücher kaufen, gemütlich einen Kaffee trinken, ein Eldorado für Bücherfreunde.

Ich halte mich links, wo ich zwischen hohen Bäumen villenartige Gebäude entdecke. Rechter Hand biege ich in die Artemisstraße ein – Artemis, die griechische Göttin der Jagd und des Waldes, aber auch Hüterin der Frauen und Kinder. Erster Hinweis auf den Namen des Ortsteiles.

Ich bin auf der richtigen Spur. Die Straße ist mit älteren und neueren Stadtvillen bebaut, gut erhalten und gepflegt, davor kleinere oder größere Vorgärten. Das größte Gebäude ist die Münchhausen – Grundschule, die im Jahre 1900 erbaut wurde. Kaum ein Mensch auf der Straße, kein Wunder, soll es doch nur rund 10.000 Menschen in diesem Ortsteil geben.

Stille, Vogelzwitschern, das leise Flüstern der Bäume, ich fühle mich in eine andere Zeit versetzt. Hier lässt sich gut wohnen.

Durch die Halalistraße, ich entdecke an einem der Hauseingänge ein Hirschgeweih, stoße ich auf die Hubertusstraße und gelange wieder auf den Waidmannsluster Damm, dem ich nach rechts folge. Ich überquere die Straße Am Dianaplatz – Diana, die römische Göttin der Jagd- und folge dem Damm bis zur Hochjagdstraße, die auf die Bondickstraße mündet.

Ich sehe sie schon von weitem, die evangelische Königin-Luise-Kirche. An der höchsten Stelle der Straße stehend, scheint sie das Wahrzeichen des Ortteiles zu sein. Erbaut ist sie im Stile der Backsteingotik, weiße und rote Steine. Als Vorbild des Portalgiebels soll das Tangemünder Rathaus gelten. Leider ist die Kirche an diesem Samstagvormittag verschlossen.

Ich durchlaufe noch manche Straße und stelle fest, dass die ursprünglichen Namen erhalten geblieben sind – Am Ansitz, Am Wechsel, Der Treiberpfad oder die Florastraße – Flora, die römische Göttin der Blüte und des Frühlings, der in diesem Jahr zu Ostern seinem Namen alle Ehre macht.

An der Ecke Waidmannsluster Damm/ Nach der Höhe weckt ein trutziges Gebäude mein Interesse. Es wirkt unbewohnt. Ich umrunde es. Hohe Mauern, blickdichte Zäune. Ich entdecke Stacheldraht auf dem hohen Zaun, eine Kamera, zwei Lautsprecher, Scheinwerfer.

Eine kleine verschlossene Tür ohne Klingelknopf. Kein Namensschild. Wer mag sich hier noch verstecken? Oder war es die Kommandozentrale der französischen Besatzungsmacht in diesem Teil Westberlins?

Waidmannslust, erst am 1. Oktober 1920 eingemeindet, gehört zum Bezirk Reinickendorf. Ein Förster und Gastwirt, Ernst Bondick, erwarb im Jahre 1875 die dortigen Ländereien und er gründete eine Villenkolonie, durch die ich gerade gewandert bin. Das Gasthaus, welches er damals erbaute, führte den Namen “Waidmannslust”.

Nicht geschafft habe ich an diesem Tag, mir auch die Parks anzusehen, z.B. den Steinberg-Park oder den Albtalpark. Auch auf die andere Seite des Waidmannsluster Dammes, wo sich die so genannte Rollberg-Siedlung befindet, eine Wohnhochhausgruppe, die zwischen 1969 und 1971 entstand, bin ich nicht mehr gekommen.

Das wird einem weiteren Ausflug vorbehalten sein. Ich beendete die Suche nach Spuren der Vergangenheit und ließ mich ermattet im “Mühlencafe” in der Artemisstraße auf einen Stuhl sinken. Dem Anlass Ostern angemessen, labte ich mich an einem wohlschmeckenden Stück Eierlikörtorte und einem sehr guten Latte Macchiato.

Dann fuhr ich zurück aus der Stille dieses Ortsteils in die grelle, lärmende Mitte der Stadt Berlin.