Ich will hier nicht mehr weg
Bild: Rainer Sturm / pixelio.de
von Waltraud Käß
Auf dem Heimweg klingen mir die Worte der jungen Frau, die ich gerade kennengelernt habe, noch in den Ohren. Und sie klingen wie ein Dank und wie eine Liebeserklärung. So einen Satz sagt nur ein Mensch, der sich aufgehoben und umsorgt fühlt, der sich fallen lassen kann, der Hilfe bekommt, wenn er sie braucht.
Am Kaffeetisch saß mir eine bildhübsche, junge Frau mit dunklen Haaren und einem offenen Gesicht gegenüber. Aileen, so möchte sie genannt werden, ist 24 Jahre alt, alleinerziehend mit einem Kind. Auf meine Bitte hin stand sie für ein persönliches Gespräch zur Verfügung, was ja nicht unbedingt selbstverständlich ist.
Aileen ist Teilnehmerin eines Projektes, welches mich schon seit längerer Zeit interessiert. Ich möchte es mit diesem Beitrag den Lesern des Magazins „Spätlese“ näher bringen. Aileen hat inzwischen eine abgeschlossene Ausbildung als Restaurantfachkraft, wie sie mir stolz erzählt. Private Probleme und die Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit veranlassten sie, sich bei diesem Projekt mit dem Namen „Jule“ zu bewerben.
Die strengen Ausschlusskriterien wie z.B. Drogen- oder Alkoholmissbrauch mussten bei ihr nicht in Anwendung gebracht werden. „Mein Wille, mich in die Gemeinschaft einzubringen, endlich eine Arbeit zu finden, damit ich für mich und mein Kind eigenständig sorgen kann, der war groß“, sagt sie im Gespräch und der war auch ausschlaggebend für ihre Aufnahme ins Projekt. Ihr großes Ziel ist, in absehbarer Zukunft nicht mehr abhängig vom Jobcenter sein zu müssen.
Wie schwer die Jobsuche der alleinerziehenden Mütter oder Väter aber ist, das erfahre ich in diesem Gespräch auch. Aileen kann die Bewerbungen nicht mehr zählen, die sie seit ihrem Berufsabschluss abgeschickt hat. Sie nutzt alle Möglichkeiten zur Arbeitsplatzsuche, sogar ein Speed-Dating hat sie neulich besucht.
Sie lacht, denn sie sieht mein ungläubiges, überraschtes Gesicht. Darüber habe ich doch nur im Zusammenhang mit einer Partnersuche gehört. Nein, das gibt es auch im Berufsleben, erfahre ich. Leiter, Eigentümer oder Personalmanager gastronomischer Betriebe, in ihrem Falle waren es zwölf, hatten sich, nur getrennt durch Zwischenwände, „einem schnellen Kennenlernen“ von Bewerbern zur Verfügung gestellt.
Innerhalb von fünf Minuten musste Aileen sich zwölf Mal präsentieren, musste zwölf Bewerbungsmappen hinterlassen. Sie weiß, dass in der Gastronomie Schicht gearbeitet werden muss. Sie kann aber nur in der Frühschicht tätig sein. Da ist doch das Kind, für welches sie verantwortlich ist. Aber genau an diesem Punkt der Verantwortung war das Gespräch immer dann zu Ende, wenn sie sich als Alleinerziehende outete.
Nur einen gab es, der überhaupt Interesse zeigte. Eine magere Ausbeute. Ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellen damit die Arbeitgeber ein Armutszeugnis aus. Wenigstens hat sie inzwischen in Bernau ein Praktikum durch ihre eigene Bewerbung bekommen. Ein kleiner Lichtblick. Aber von Berlin-Marzahn nach Bernau – das ist auch nicht gerade der nächste Weg.
Zwei Stunden wird sie insgesamt für eine Strecke brauchen, der Abstecher zur Kindertagesstätte ist jeden Morgen und nach Dienstschluss Pflicht. „Aber“, sagt sie, „vielleicht ist gerade das mein Einstieg. Ich will und muss es schaffen.“
Aileen bewohnt eine Drei-Zimmer-Wohnung. Die Miete wird durch das Jobcenter getragen. „Klar“, sagt sie, „viel Geld habe ich mit dem Lebensunterhalt und dem Kindergeld nicht zur Verfügung, aber es muss halt reichen.
Wichtig für mich ist, dass ich hier unter den anderen Bewohnerinnen Freundinnen gefunden habe, dass wir uns gegenseitig helfen, z.B. auch bei Krankheit eines Kindes, eine von den Freundinnen ist immer da. Ich habe auch Unterstützung durch meine Eltern, aber sie sind beide berufstätig und können nicht immer zur Verfügung stehen. Durch „Jule“ habe ich eine kleine Familie dazu gewonnen. Ich will hier nicht mehr weg. Ich werde mich wohl anketten, wenn meine Zeit hier vorbei ist.“
„JULE“ oder „Junges Leben“ nennt sich dieses einzigartige und einmalige Modellprojekt hier in Berlin – Marzahn, in der Golliner Straße. Dreizehn alleinerziehende Mütter und ein Vater im Alter zwischen 18 und 27 Jahren übersetzen den Namen für sich auch mit „Jung, Unabhängig, Lebendig, Eigenständig“.
Das Projekt trägt noch immer das Alleinstellungsmerkmal und es ist mit Recht als eins von zehn Projekten im Jahre 2012 mit dem Preis „Soziale Stadt 2012“ ausgezeichnet worden. Es gibt zwar inzwischen Kontakte zur Stadt Hagen, aber noch kein weiteres Projekt dieser Art, mit dem man eigene Erfahrungen austauschen könnte, wurde bisher ins Leben gerufen.
Doch es hat sich weit herum gesprochen. Inzwischen besuchen sogar interessierte Fachleute aus anderen Ländern dieses Projekt, wie mir Frau Bikádi und Frau Egel, Sozialarbeiterinnen der Gemeinschaftseinrichtung „Jule“ mit leuchtenden Augen erzählen.
Mir wird warm ums Herz, denn ich spüre, dass ihnen diese Arbeit sehr am Herzen liegt, und dass sie sich auch von den kleineren Problemen, die jeden Tag mit den Bewohnerinnen zu lösen sind, oder von den größeren, z.B. der weiteren Bewilligung der Fördermittel durch den Senat von Berlin, nicht runter ziehen lassen.
Am 30. Januar 2012 wurde „JULE“ aus der Taufe gehoben. Viele „Mütter und Väter“ waren die Geburtshelfer, doch die geistige Urheberschaft gebührt dem Vorstandsmitglied der Wohnungsbaugesellschaft degewo, Frank Bielka. Er kannte die jungen Wohnungssuchenden ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung, mit Negativeinträgen bei der Schufa, als Kunden beim Jobcenter.
Deren Chancen für einen Ausstieg aus diesem Negativ-Kreislauf tendierten eigentlich gegen Null. Da muss man nicht nach Ursachen fragen, die sind so vielschichtig wie das Leben selbst. Den jungen Leuten musste geholfen werden, wieder den Weg ins Leben zu finden.
In den Jahren 2012/2013 hat sich dieses Modellprojekt mit Hilfe vieler Partner, z.B. dem Jobcenter, dem Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf, dem Berliner Senat, dem Marzahn-Hellersdorfer Wirtschaftskreis sowie dem Kinderring Berlin e.V. zu einem erfolgreichen Jugendwohnprojekt entwickelt. Alle Bewohner des Projekts befinden sich inzwischen in einer Maßnahme bzw. einer Ausbildung. Wissenschaftliche Begleitung erfolgt durch die Alice-Salomon-Hochschule.
Die Wohnungsbaugesellschaft degewo hat mit einem Jahr Vorbereitungsarbeit 15 sanierte Wohnungen für die jungen Leute bereit gestellt. Weitere zwei 5-Zimmer-Wohnungen wurden mit Wanddurchbrüchen zu einer Gemeinschaftseinrichtung von etwa 200 qm umfunktioniert, die ich besichtigen darf.
Ich sehe eine Küche, in der schon viele Koch- und Backkurse durchgeführt wurden, und in der an manchen Tagen gemeinsam gefrühstückt wird. Aileen kann sich jetzt sogar schon eigenständig einbringen. Sie kann den jungen Bewohnern u.a. zeigen, wie man einen Tisch deckt oder eine festliche Tafel gestaltet.
Ein großes Zimmer ist für die Kinder mit Rutsche und Spielwiese und anderen Spielgeräten eingerichtet. Ja, es gibt sogar eine Kindersanitäreinrichtung, wo ich mir das Knie am winzigen Waschbecken stoße. Im nächsten Zimmer ist ein Rückzugsraum eingerichtet. Hier können die jungen Frauen in Elternsprechstunden oder Beratungen zu weiteren Problemkreisen mit kompetenten Fachleuten über ihre Sorgen sprechen.
Erziehungsberater, Diplom-Sozialpädagogen, Schuldnerberater oder Anwälte stehen ihnen zur Verfügung. Und das wird gut und oft angenommen, wie mir Frau Egel versichert.
Die Räume sind praktisch, in freundlichen Farben, und sehr liebevoll, auch mit Hilfe der Bewohner, eingerichtet. Fotos an den Wänden, Patschhände und Lieblingsspielzeuge der Kinder auf Collagen vereint, zeugen davon, dass die Bewohner „Jule“ als ihr Projekt verstehen. „Na ja“, dämpft Frau Bikádi meine Begeisterung, „das klappt natürlich nicht immer reibungslos.
Diese Räumlichkeiten müssen auch sauber und in diesem Zustand erhalten werden. Da müssen wir schon mal ein Auge drauf haben, besonders dann, wenn Geburtstagsfeiern oder andere Feierlichkeiten stattgefunden haben. Die Projektteilnehmer dürfen die Gemeinschaftsräume nämlich auch an den Wochenenden in unserer Abwesenheit nutzen.
Aber es ist ja unsere Aufgabe, den jungen Leuten das Rüstzeug zu geben, damit sie solche Aufgabenstellungen auch verstehen. Es ist quasi Hilfe zur Selbsthilfe.“
Im Gemeinschaftsraum kann gespielt werden, man kann ein Buch lesen, mit den Freundinnen Spaß haben, ehe sich alle wieder in die eigene Wohnung zurück ziehen.
Man kann sich auch Wissen aneignen, z.B. in Vorträgen über den Umgang mit Geld, zur Führung eines Haushaltbuches oder zur gesunden Ernährung. Wenn irgendwo der Schuh drückt und eine Wissenslücke auftritt, können die Projektpartner jederzeit angesprochen werden und stehen dem Projekt, aber auch den einzelnen Bewohnern mit Rat und Tat zur Seite.
Von den zur Verfügung stehenden 15 Wohnungen sind inzwischen 14 Wohnungen stabil belegt. Es könnte also noch einer Bewerbung stattgegeben werden. Von zwei Projektteilnehmern musste man sich im Laufe der zwei Jahre trennen, die Voraussetzungen hatten sich verändert.
Während unseres Gesprächs ist es später Nachmittag geworden. Nach und nach füllen sich die Räume mit den heimkehrenden Bewohnerinnen und ihren Kindern. Hier treffen sie sich zum ersten Plausch, entspannen, lachen, scherzen, trinken einen Kaffee. Und alle Kinder mittendrin. Da ist Leben in allen Räumen.
Es ist ein tolles Projekt, und es ist jede Unterstützung wert. Im Moment bangt die Projektleitung darum, dass die Fördermittel, die Ende des Jahres auslaufen, auch im nächsten Jahr wieder zur Verfügung gestellt werden. Was sind zwei Jahre bei einem solchen Unternehmen?
Hier sollten sich die Partner für eine langfristige Lösung entscheiden, denn diese Gruppe junger Menschen mit den beschriebenen Problemen, wird sich auch in den kommenden Jahren in Marzahn-Hellersdorf bzw. in ganz Berlin nicht verkleinern, eher vergrößern.
Auch im Kleinen kann geholfen bzw. unterstützt werden. Die jungen Leute sind lernwillig. Vielleicht gibt es unter den Leserinnen und Lesern des Magazins „Spätlese“ Senioren, die handwerkliche Fähigkeiten besitzen und gerne ehrenamtlich helfen möchten. Oft ist etwas zu reparieren, wie z.B. Spielzeug.
Einen teuren Handwerker können sich die jungen Leute nicht leisten. Oder es gibt Seniorinnen, die den jungen Frauen zeigen können, wie gehäkelt oder gestrickt wird, was ja heutzutage wieder sehr im Trend liegt. Oder im Sommer gibt es bei dem einen oder anderen Kleingärtner Obst und Gemüse im Überfluss.
Das könnte der Gemeinschaftseinrichtung von „Jule“ zur Verfügung gestellt werden. Es gibt vielerlei Möglichkeiten. Wer Lust hat und etwas tun möchte, kann sich über die E-Mail jule-marzahn@web.de oder telefonisch unter 93 772052 bei der Projektleitung melden.
Jetzt, während der Arbeit an diesem Beitrag, wird mir noch einmal bewusst, warum Aileen hier nicht mehr weg will.