Wider das Vergessen
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von Waltraud Käß
Unter dieser Überschrift möchte ich über eine aufschlussreiche und emotional geprägte Veranstaltung des Heimatvereins Marzahn – Hellersdorf e.V. im Rahmen des „Tages der Regional- und Heimatgeschichte“ berichten, die sich mit dem Thema „Marzahn-Hellersdorf im 3. Reich“ beschäftigte.
Die Veranstaltung wurde in Zusammenarbeit mit dem Bezirksmuseum durchgeführt und ergänzte die Ausstellung „Marzahn-Hellersdorf 1933 – 1945“.
Am 2. November 2013 wurden in mehreren Vorträgen neue Ergebnisse der Forschung zu dieser Zeit zwischen 1933 und 1945 vorgestellt,
die die Historiker des Heimatvereins in akribischer Recherche und ehrenamtlich zusammen getragen haben. Die Vortragsreihe wurde eröffnet durch eine Einführung der Leiterin des Bezirksmuseums.
Ein außerordentlich interessiertes und fachkundiges Publikum saß im Auditorium. Wegen der aktuellen Ereignisse im Bezirk, rechtsradikaler Übergriffe in der Bundesrepublik, oder auch den in einigen Ländern massiv zunehmenden faschistischen Umtrieben hätte ich mir eine breitere Öffentlichkeit gewünscht, die leider nicht gegeben war, obwohl in einer Reihe von lokalen Zeitungen über die Veranstaltung informiert wurde.
Was also passierte in diesem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte in den Jahren zwischen 1933 und 1945 und davor in den Siedlungsgebieten und Dörfern Mahlsdorf, Kaulsdorf, Biesdorf, Marzahn, Hellersdorf, die zum heutigen Stadtbezirk gehören?
Wie konnte es den Nationalsozialisten gelingen, die Menschen für ihre Ideologie zu vereinnahmen, sie mit ihrer Propaganda zu willigen Helfern zu machen? Wie funktionierte das System der Verfolgung, der Vernichtung aufrechter Menschen oder „unwerten Lebens“ im Zuge der Euthanasie? Wo gab es Widerstand?
Wer sind die Opfer? Wer sind die Täter? Darauf versuchten die Referenten eine Antwort zu geben. Und am Ende der Veranstaltung brachte es ein Teilnehmer aus dem Auditorium auf den Punkt: Ursachenforschung, Aufklärung, Opfergedenken und ständige Mahnung sind das Gebot der Stunde, damit sich dieses dunkle Kapitel in Deutschland niemals wiederhole.
Schon sehr früh, im Mai 1926, formiert sich in Kaulsdorf eine Sektion der NSDAP. Sie ist eine der ersten in Berlin und sie bildet gleichzeitig den SA-Trupp 20, der in ganz Berlin als Saalschutz und Rollkommando eingesetzt wird. Seinen Ursprung hat er aber in der in Kaulsdorf formierten „Ortsgruppe 22“ des „Frontbanns“, der bereits in den Jahren 1924/25 entstand.
Die Mitglieder kommen nicht nur aus Kaulsdorf, sondern auch aus Biesdorf, Mahlsdorf, Hellersdorf, Marzahn, Dahlwitz und Neuenhagen. 1930 gibt es bereits 50 Mitglieder, die zu etwa 90% erwerbslos sind. Die Weltwirtschaftskrise hat auch vor Deutschland nicht Halt gemacht. Der Führer des SA-Trupps ist im Mai 1928 Herbert Volz.
Er wird bereits bei den Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung Lichtenberg im November 1929 einer der beiden gewählten Verordneten der NSDAP sein. Im März 1933 wird er zum Staatskommissar in Lichtenberg berufen, im September 1934 wird er Bezirksbürgermeister von Lichtenberg. Ideologische Unterstützung findet diese Sektion bei mehreren Veranstaltungen durch Joseph Goebbels, der im November 1926 zum NSDAP-Gauleiter für ganz Berlin ernannt wird.
In schneller Folge werden weitere Sektionen der NSDAP gegründet, so z.B. im November 1930 in Biesdorf oder im Januar 1932 die Sektion in Mahlsdorf. Eigenständig wird in den Jahren 1933/34 die Sektion Marzahn. Biesdorfer und Kaulsdorfer Jugendliche gründen die Hitlerjugend, die im September 1930 bereits über 100 Mitglieder verfügt.
Im November 1931 folgen die Frauen in Kaulsdorf, hier wird die Frauenschaft Kaulsdorf gebildet, ihre Leiterin ist Mitglied der NSDAP. Mädchen und Frauen werden eingeschworen auf Führer, Volk und Vaterland. Ihre Aufgabe im System liegt vor allem darin, viele Kinder zu gebären, was mit Auszeichnungen, den so genannten Mutterkreuzen, belohnt wird.
Fakt ist, so die Leiterin des Bezirksmuseums, dass die Grundlagen der Durchsetzung der NS-Herrschaft mit der Machtübernahme durch die NSDAP und Hitler am 30. Januar 1933 bereits sehr früh, schon in der Weimarer Republik, geschaffen wurden. Was dann folgte, ist hinlänglich bekannt und passierte nicht nur im Bezirk.
Es gibt Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, die Stellen werden mit gedienten Parteigenossen besetzt. Die Volksbücherei wird „gesäubert“, Straßenumbenennungen werden durchgeführt, der Arbeitersportverein wird verboten. Auch vor den Kirchen macht das System nicht Halt. Teilweise werden Ortsgruppenleiter der NSDAP zu Kirchenältesten ernannt.
Brauchtum und Volkskunde erleben eine neue Blüte. Bereits im Juni 1930 findet im Kaulsdorfer Schützenhaus das erste, von der NSDAP organisierte, Pfingstkonzert statt. Im Jahre 1934 verkündet Goebbels, „dass man das Heer der öffentlichen Meinung organisieren wolle“, was heißt, dass „die Propaganda volkstümlich sein und sich auf den Beschränktesten einstellen müsse“. Das war der Beginn der geistigen Mobilmachung.
In den Dörfern und Siedlungsgebieten werden Schulen, Gaststätten, oft das Schützenhaus Kaulsdorf, in erheblichem Maße das Schloss Biesdorf, für propagandistische Zwecke und Großveranstaltungen genutzt. Es gibt Umzüge, Fahnenweihen, Erntefeste, Sonnenwendfeiern, Baumblütenfeste in Biesdorf und Mahlsdorf, Heimatfeste im Schloss Biesdorf.
Die Vielfalt der Kultur wird verdrängt durch den Kult um den Führer. Das Schloss Biesdorf war übrigens der Sitz der Ortsgruppe Biesdorf der NSDAP, und in ihm befand sich ein Polizeiposten. Dessen aufgefundenes Reviertagebuch dokumentiert säuberlich aufgelistet Durchsuchungen, Verhaftungen mit Namen und Adresse, Feierlichkeiten und Großveranstaltungen, wie Frau Dr. Rank berichten konnte.
Das Radio hält Einzug in die Haushalte und wird als Instrument der Verbreitung der Nazi-Ideologie intensiv genutzt. Die so genannten „Volksempfänger“, später die Kleinempfänger, liegen niedrig im Preis und sind für alle erschwinglich. Z.B. wird im Schützenhaus in Kaulsdorf mit großer öffentlicher Beteiligung eine Rede Hitlers aus München und eine Rede Goebbels aus dem Sportpalast in Berlin übertragen.
Auch die Filmtheater „Capitol“ in Mahlsdorf und die „Gloria-Lichtspiele“ in Kaulsdorf sollen erwähnt werden. Tonfilme mit Titeln wie „Verräter“ oder „Deutsches Land in Afrika“ „Juden ohne Maske“ oder „Der ewige Jude“ laufen sehr früh in diesen Kinos. Später dann gibt es Filme wie „Feuertaufe“ oder „Auf den Straßen des Sieges“, die den Krieg verherrlichen bzw. erträglicher machen sollen. Frau Dr. Hübner referierte mit vielen Fakten über Ideologie und Propaganda in diesen Jahren.
Dass das die ideologische und emotionale Vorbereitung „der Volksgenossen“ auf die folgenden, unsäglichen Verbrechen ist, liegt wohl auf der Hand. Es wird mir schwer, fast unmöglich, über die Verbrechen an so genanntem „unwerten Leben“ oder „Ballastexistenzen“ in der Krankenanstalt Wuhlgarten zu schreiben und damit zu berichten, worüber Herr Strauß referierte.
Perfektioniert durch die Nazis, durch sie in Gesetze gegossen, muss man sich aber mit diesen Verbrechen auch im heutigen Stadtbezirk auseinandersetzen. Haben die Ärzte und Schwestern jener Zeit den Hippokratischen Eid ignoriert? Warum haben sie ihre humanitäre Orientierung verloren? War ihnen bewusst, dass sie verbrecherisch handeln? Man könnte es annehmen, wenn man hört, dass Ärzte und Schwestern einer Abteilung der Anstalt Wuhlgarten gemeinsam Selbstmord begehen, denn bis April 1945 werden auch in der Krankenanstalt Wuhlgarten Patienten getötet.
Nicht alle Verbrechen sind erforscht. Wie viele unbekannte Opfer gibt es noch? In ganz Deutschland geht man nach den bisherigen Recherchen von 70 000 Patienten aus. Bei dieser Anzahl muss es Mitwisser gegeben haben, Familien, Bekannte, weitere Mitarbeiter. Die meisten, aber nicht alle haben geschwiegen. Nach und nach gab es Proteste der Kirchen, richterliche Einwendungen, Familien holten ihre Angehörigen nach Hause, was schließlich dazu führte, dass die offiziellen Aktionen beendet, trotzdem „wild“ in den psychiatrischen Anstalten weiter geführt wurden.
Es gibt eine Ausstellung darüber in den Wittenauer Heilstätten „totgeschwiegen 1933 – 1945“. Vor allem den nachfolgenden Generationen, den jungen Menschen, soll mit dieser Ausstellung ermöglicht werden, über das rassistische Denken in der NS-Zeit zu reflektieren. Ihnen soll vermittelt werden, welche Gefahren eine Ideologie in sich birgt, die zur Ausgrenzung und Ermordung kranker Menschen führt.
Die Ausstellung findet man in der Vivantes GmbH/Netzwerk für Gesundheit, Oranienburger Straße 285, Haus 10 in 13437 Berlin – Nähe U-Bahnhof Karl-Bonhoeffer-Klinik. Info und Anmeldung: über Telefon 3049 85 733 oder mail@totgeschwiegen.org. Über die Homepage www.totgeschwiegen.org können inhaltliche Informationen eingeholt werden.
Dass sich ab 1933 der Widerstand regt, ist bekannt und er zeigt sich in vielfältiger Weise. Starke Organisationseinheiten der SPD und der KPD gibt es z.B. in Lichtenberg, Kaulsdorf, Mahlsdorf und Biesdorf. Doch es gibt keine gemeinsamen, konzertierten Aktionen. Die SPD verspricht zwar ihren Mitgliedern, dass man kämpfen werde, aber der Aufruf zum Kampf oder gemeinsame Aktivitäten mit der KPD bleiben aus.
Die Führung meinte wohl, durch ihr Wohlverhalten ungeschoren zu bleiben. Intensiv arbeitet die KPD in der Illegalität. Flugblattaktionen werden organisiert, die Zeitung „Die Rote Fahne“ wird verteilt, illegale Poststellen werden eingerichtet, es wird Geld gesammelt für die „Rote Hilfe“, Hauswände und Bretterzäune werden mit Losungen beschriftet usw., die Akteure werden gejagt. Die Verhaftungen wegen staatsfeindlicher Umtriebe und Vorbereitung zum Hochverrat nehmen zu.
Eine Widerstandsgruppe der KPD mit 70 Mitgliedern wird ausgehoben, verhaftet und verurteilt. Eine Vielzahl von Beispielen trug Dr.Teresiak dazu vor. Prozesse wegen Hochverrats werden durchgeführt, es wird gefoltert und getötet. Der jüdische, sozial engagierte Arzt Dr. Arno Philippsthal, der seine Praxis in Biesdorf hat, ist das erste Todesopfer.
Er wird im März 1933 ohne Angabe von Gründen verhaftet, in die Kaserne der Feldpolizei in der General-Pape-Straße in Tempelhof verbracht, wo er schwer misshandelt zu Tode kommt. Seiner wird noch heute gedacht. Das in Biesdorf befindliche Alpenland/ Alten- und Pflegeheim trägt seinen Namen.
Dass die Gedenkkultur im heutigen Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf einen guten Stand erreicht hat und gepflegt wird, konnte Herr Brauer, der Vorsitzende des Heimatvereins, berichten, denn der Heimatverein ist daran maßgeblich beteiligt. Stelen, Gedenksteine und-tafeln, Stolpersteine usw. geben den Opfern einen Namen, erinnern an die Verbrechen der NS-Herrschaft, sollen aufrütteln, die Menschen zum Nachdenken und Schlussfolgern anregen.
Verweisen möchte ich an dieser Stelle auch auf die Schriftenreihe des Heimatvereins zur Regional- und Heimatgeschichte und an die Chronik des Bezirksmuseums im Rahmen der Ausstellung „Marzahn-Hellersdorf 1933 – 1945“.
Mein Bericht bliebe unvollständig, würde ich nicht erwähnen, dass die Veranstaltung in der Alice-Salomon-Hochschule stattfand. Frau Prof. Dr.Toppe berichtete den Teilnehmern von Alice Salomon, einer engagierten Frau, die sich sehr früh der Frauenarbeit widmete. Sie war Direktorin der Sozialen Frauenschule und Präsidentin der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit.
Nach der Machtübernahme der NSDAP wurde sie ihrer Ämter enthoben und 1937 innerhalb von drei Wochen zur Emigration gezwungen. Bei Nichtbefolgung der Anweisung drohte ihr die Einlieferung in ein Konzentrationslager. Auch ihr wird mit dieser Schule, deren Vorläuferin die 1908 gegründete Soziale Frauenschule ist, ein Denkmal gesetzt.