Tag der Regional- und Heimatgeschichte Marzahn-Hellersdorf 2018 – Wirtschaftsgeschichte von Marzahn-Hellersdorf
Bild: Waltraud Käß
von Waltraud Käß
Diesen Tag könnte man getrost unter das Motto „Schöne Wirtschaft?! – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der wirtschaftlichen Entwicklung des Bezirks“ stellen. Es passte zu diesem wunderschönen Oktobertag und dem Tagungsort Schloss Biesdorf. Wer das kleine Schloss aus der Vergangenheit kennt, kann nur staunen, welches Kleinod durch intensive Bemühungen vieler Akteure während einer längeren und umfangreichen Sanierungsphase hier entstanden ist.
Heute ist es eine kommunale Galerie für wechselnde Ausstellungen und Veranstaltungen. Im historischen Rückblick erfahren wir, dass Schloss Biesdorf in den Jahren 1868/1869 als Turmvilla erbaut wurde und nach mehreren Eigentümerwechseln im Jahre 1887 in den Besitz der Familie Siemens überging – die eng verbunden ist mit der industriellen Entwicklung Berlins.
Welche Bedeutung das gewählte Thema über den Heimatverein hinaus genießt, war an der Teilnahme zweier hochrangiger Politikerinnen zu erkennen. Beide, die Vizepräsidentin des Bundestages Petra Pau und die Bürgermeisterin des Bezirks Dagmar Pohle, sprachen ein Grußwort. Die Bürgermeisterin erwähnte in diesem Zusammenhang die Festveranstaltung des Bezirks am 5. Januar 2019, denn Marzahn feiert im Jahre 2019 den 40. Geburtstag. Da gibt es von vielen Höhepunkten und auch Niederlagen zu berichten.
Nach der Themenstellung des Hauptreferates, welches von Prof. Jörg Roesler gehalten wurde, und mehreren nachfolgenden Vorträgen war also ein umfangreiches Programm mit vielen Details zur Wirtschaftsgeschichte des Bezirks nach 1990 zu erwarten. Und diese Erwartung der Zuhörer, der Saal war gut gefüllt, wurde befriedigt und übertroffen, wie der Beifall für jeden Vortragenden zeigte. Intensiv wurde auch die Möglichkeit genutzt, in die Diskussion zum Thema zu kommen und nachzufragen. Der Moderator stellte dafür ein großzügiges Zeitfenster zur Verfügung.
Eine Tages-Konferenz in einem solchen Beitrag zusammen zu fassen, ist nicht einfach und lässt nur die Erwähnung einiger Schwerpunkte und Details zu. Aber wie immer in der Tradition des Heimatvereins wird es auch zu diesem Tag der Regional- und Heimatgeschichte eine Broschüre mit allen Vorträgen geben, die über den Heimatverein bezogen werden kann.
Wer die Gegenwart und zukünftige Entwicklung des Wirtschaftsstandortes beschreiben will, kann die Vergangenheit nicht ausblenden, denn der Bezirk bestand doch schon vor dem Jahre 1990 und hatte eine Menge in das „neue Deutschland“ einzubringen. Prof. Jörg Roesler erläuterte am Beispiel des Standortes Berlin, dass allein 20 volkseigene Kombinate ihren Sitz in Berlin hatten.
Die Idee des Runden Tisches, im Jahre 1990, das Volksvermögen durch die Einrichtung einer treuhänderischen Verwaltung zu retten, ging nach hinten los, wie alle wissen. So standen im Jahre 1991 in Berlin 903 Unternehmen zur Privatisierung an. Was blieb von den Arbeitsplätzen übrig? Allein das Kombinat NARVA hatte 1990 über 5 000 Beschäftigte.
Doch in den Großbetrieben der Stadt, wie wahrscheinlich auch auf dem gesamten Gebiet der DDR, wurden 75 – 80% aller Arbeitsplätze vernichtet. Nach Einschätzung von Prof. Roesler wurde die Stadt damit ihres traditionellen, industriellen Charakters beraubt. Von diesem Raubbau hat sie sich bis heute nicht erholt. Das betraf auch den Industriestandort Marzahn, denken wir nur an die Werkzeugmaschinenfabrik/Knorr-Bremse am S-Bahnhof Marzahn, welche wahrscheinlich das markanteste Beispiel darstellt.
Nach der Vernichtung der Produktion und all dieser Arbeitsplätze muss sich doch keiner wundern, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse Ost/West nur schleppend voran geht. Keines der großen DAX-Unternehmen hat seinen Sitz in den neuen Bundesländern. Die Ansiedlung mittelständischer Unternehmen scheitert oft an der Finanzkraft möglicher Unternehmer, und die bestehenden Unternehmen haben alle Hände voll zu tun, sich am Markt zu behaupten.
Da ist Kreativität und hoher persönlicher Einsatz gefragt. Das wurde besonders während des launigen Vortrags von Thomas Koch. „dem Autohändler“ deutlich. Drei tüchtige Männer haben mit einem großen Zelt und wenig Geld angefangen Autos zu verkaufen, und bieten heute einigen hundert Menschen an mehreren Standorten einen Arbeitsplatz.
Prof. Dr. Niemann blickte zurück auf die gesundheitliche Versorgung der Menschen in Marzahn und Hellersdorf. Er sah es als Vorzug der Wohnungspolitik der DDR an, dass beim Planungsansatz für die Errichtung der neuen Wohngebiete immer auch die Infrastruktur mitgedacht wurde. Das betraf nicht nur Schulen, Kinderkrippen, die Waren des täglichen Bedarfs, Spielplätze und Turnhallen, sondern auch die gesundheitliche Versorgung.
Er verwies auf die Krankenhäuser, die Polikliniken, des Bezirks, in denen es eine umfassende medizinische Versorgung der Patienten gab – und die zunächst in der Vorstellung der privatwirtschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik keinen Bestand mehr hatten. Die angestellten Ärzte mussten sich in die Selbständigkeit begeben und das bedeutete zunächst eine große Schuldenlast für viele von ihnen.
Doch der Gedanke, die medizinische Versorgung in Polikliniken zu bündeln, ist anscheinend nicht tot zu kriegen. Er wird zunehmend in Form der entstehenden Ärztehäuser und Gesundheitszentren, so nennt man sie heute, wieder neu belebt. Mit dem Unfallkrankenhaus, der Augenklinik und anderen medizinischen Zentren ist der Bezirk inzwischen wieder gut aufgestellt.
Prof. Niemann meinte, dass die Wirtschaft des Bezirks zwar „noch nicht brummt, aber schon viel lauter summt als noch vor zehn Jahren“. Zur weiteren Verbesserung werden auch viele angedachte und geplante Vorhaben des Wirtschaftskreises und der Wirtschaftsförderung des Bezirks beitragen.
Emotional wurde es noch einmal, als die ehemalige Generaldirektorin von Berlin-Kosmetik, Dr. Christa Bertag, über den Versuch der Firmenrettung von damals, ab dem Jahre 1990, sprach. Kurz vorher, m Jahre 1988, wurde der Grundstein für den Stammbetrieb Berlin-Kosmetik in der Bitterfelder/Wolfener Straße gelegt.
Dort sollte das modernste Werk Europas gebaut werden. Als die Inbetriebnahme im Jahre 1991 erfolgte, gab es die DDR nicht mehr. Das Werk war kein VEB mehr, sondern es war bereits ein Betrieb der Treuhand, die die noch notwendigen Investitionsgelder während der Bauphase ab 1990 genehmigen musste. Was für ein Wahnsinn. Dieses Werk nahm noch den Produktionsbetrieb auf.
Doch die Zeichen der Zeit standen auf Sturm. Um den 8500 Mitarbeitern des gesamten Kombinats auf dem Gebiet der DDR die Arbeitsplätze zu retten, wurden die einzelnen Betriebsteile in GmbH`s umgewandelt, was letztlich aber auch nur als Zwischenlösung gesehen werden kann. Denn alle Märkte im Inland waren weggebrochen, das neue Bundesgebiet wurde von bekannten westdeutschen Kosmetik- und anderen Artikeln überschwemmt, die vordem auch von Berlin-Kosmetik hergestellt und in die BRD exportiert wurden.
Mit der Währungsunion und der Einführung der D-Mark konnte man auch mit den osteuropäischen Ländern keine Geschäfte mehr machen, denn im RGW wurde auf der Basis der Rubel-Verrechnung der Export/Import finanziert. Letztlich kam es doch zur Liquidation.
Deutlich wurde in allen Vorträgen, dass die Grundlüge der Wiedervereinigung, wie das Prof. Roesler nannte – man habe nur Schulden und marode Produktionsstandorte der DDR übernommen- so nicht stimmt. Westliche Politiker werden von dieser Begründung im Zuge der Vernichtung von Arbeitsplätzen aber auch nicht abrücken, denn sonst müssten sie eigene Fehler und Schuld eingestehen. Und das wird, wenn überhaupt, nur auf Nebenschauplätzen passieren. Auch das ein Teil der Delegitimierung der DDR.
Fazit der Veranstaltung: Wir haben in den Vereinigungsprozess viel an Substanz, Kapital und Erfahrung eingebracht. Und wir werden uns immer gegen Verunglimpfungen jeder Art wehren. Der Schockzustand ist überwunden – die Wirtschaft im Bezirk „brummt zwar noch nicht, aber sie summt schon sehr viel lauter“.
Wirtschaftsfunktionäre, die in der DDR Verantwortung getragen haben, waren bisher publizistisch wenig tätig. Nun aber gibt es eine Publikation des Rohnstock-Verlages „Jetzt reden wir“ und „Jetzt reden wir weiter“, auf die ich Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte. Ehemalige Direktoren der DDR-Kombinate haben in umfangreichen Beiträgen über ihre Arbeit und ihre Betriebe berichtet und damit der Wahrheit eine Plattform gegeben.
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