Kennen Sie eigentlich ...?
Bild: S. von Gehren / pixelio.de
Den Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf durchzieht eine große Anzahl von Straßen, die den Namen einer bekannten oder weniger bekannten Persönlichkeit tragen. Ich will heute an einen von ihnen erinnern.Seinen Namen trägt eine Hauptstraße im Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf.
Sie beginnt ihren Lauf am S-Bahnhof und verbindet die Märkische Allee mit der Landsberger Allee. Mehrere Nebenstraßen verzweigen sich von ihr aus zwischen den Neubauten der achtziger Jahre, die mit dem Aufbau des Stadtbezirks Marzahn entstanden.
Ihre Straßenschilder tragen die Namen von Ludwig Renn, Lea Grundig, Paul Dessau oder Jan Petersen. Anwohner, Passanten, Touristen gehen täglich an ihren Einmündungen vorbei oder in sie hinein, kaum jemand wird darüber nachdenken, wer wohl die Namensgeber gewesen sein mögen, geschweige denn, welche Verdienste sie haben, und warum ihnen zum Andenken diese Straßen ihre Namen tragen.
Die Hauptstraße, die ich meine, und die am S-Bahnhof beginnt, trägt den Namen Raoul Wallenberg. Doch wer war dieser Raoul Wallenberg? Die Antworten von Anwohnern auf meine Frage ähneln sich sehr. „Weiß ich nicht.“ „Da habe ich mir noch keine Gedanken drüber gemacht.“ „Muss ja ein bekannter Mensch gewesen sein.“
„Ein Kommunist war es nicht, denn die Straße wurde ja erst nach 1990 umbenannt.“ „Das ist doch kein deutscher Name, oder?“ Tja, da war guter Rat teuer und eine Recherche erforderlich, die zur Aufklärung beitragen soll. Wer also war Raoul Wallenberg?Um es vorweg zu nehmen. Ein Kommunist war er nicht, aber ebenso ein Mensch mit humanistischer Gesinnung.
Ein Deutscher war er auch nicht, aber er war einer, dem unsere Achtung und unser Respekt gebühren. Und dessen Andenken man in Ehren halten sollte, denn er hat durch sein Handeln Tausenden von Menschen in einem anderen Land das Leben gerettet, und er ist selbst auf bisher nicht eindeutig geklärte Weise ums Leben gekommen.
Raoul Wallenberg war der Sohn eines schwedischen Marineoffiziers. Seine Mutter hatte jüdische Vorfahren. Er wurde 1912 in eine berühmte schwedische Bankiers- und Unternehmerfamilie, auch Diplomaten befinden sich in dieser, hinein geboren. Er studierte Architektur in den USA, arbeitete später in Südafrika in einem schwedischen Unternehmen, danach in einer holländischen Bank in Haifa.
Im Jahre 1936 kehrte er nach Schweden zurück. Sein neues Betätigungsfeld war die Central European Trading Company, die einem jüdischen Eigentümer gehörte, der somit nicht selbst in den von den Nazis besetzten Gebieten Europas seinen Geschäften nachgehen konnte.
Diesen Part nun übernahm Raoul Wallenberg. Die Geschäfte führten ihn damals auch nach Ungarn. Er musste erleben, in welchem Ausmaße – es waren etwa 400 000 Menschen betroffen -, die Nazis die Ghettoisierung bzw. Deportation von jüdischen Mitbürgern betrieben.
Das erschütterte ihn zutiefst. Durch die Unterstützung seiner Familie wurde es möglich, ihn im Juli 1944 als ersten Sekretär der schwedischen Gesandtschaft in Budapest einzusetzen. Im Gepäck hatte er eine Liste mit den Namen von 800 Personen, die Schweden garantiert aufnehmen würde, um sie zu retten.
Raoul Wallenberg wurde aktiv. So genannte „Schutzpässe“ wurden an Bedrohte ausgegeben, die sie als schwedische Staatsbürger auswiesen, wobei den Behörden gegenüber oft mit Bestechungsgeldern nachgeholfen werden musste. Viele seiner Schützlinge wurden in ca. 30 so genannten „Schutzhäusern“ untergebracht, in denen auch Krankenstationen eingerichtet wurden.
Sie trugen wohlklingende Tarnnamen wie „Schwedische Bibliothek“ oder „Schwedisches Forschungsinstitut“, und bildeten zusammen mit Schutzhäusern anderer Länder ein internationales Ghetto rund um die Große Synagoge in Budapest.
Wallenberg gelang es mit anderen Diplomaten und dank amerikanischer Dollars, die Versorgung der vielen Schutzsuchenden zu sichern. Dass sein Wirken ihm den Hass der Nazi-Oberen einbringen würde, war zu erwarten. Adolf Eichmann drohte sogar, den „Judenhund Wallenberg“ erschießen zu lassen.
Raoul Wallenberg bot auch einem ungarischen Fotografen, Thomas Veres, Schutz, indem er ihn zum offiziellen Gesandtschaftsfotografen ernannte. Dieser begleitete ihn dann auf vielen seiner Missionen, dokumentierte die Deportationszüge, machte Passfotos für die Schutzpässe.
70 000 jüdische Bürger überlebten den Holocaust im Budapester Ghetto. Für sie wollte sich Wallenberg auch nach dem Einmarsch der Roten Armee einsetzen. Doch hier begannen seine Probleme. Waren es Missverständnisse, waren es Denunziationen, die ihn als Spion diskreditierten, oder war es dieses allgemeine Misstrauen der sowjetischen Führung gegenüber den Alliierten, die zu seiner Verhaftung führten?
Natürlich hatte Wallenberg mit den amerikanischen Geldgebern zusammen gearbeitet, natürlich hatte er Berichte an diese über diverse Aktionen geschickt. Anders hätte er die vielen jüdischen Bürger nicht retten können. Doch das geriet ihm zum Verhängnis.
Überhaupt sind die gesamten Umstände seiner Verhaftung und seines Verbleibs mysteriös und sehr widersprüchlich bis zum heutigen Tage. Lange Zeit bestritt die Sowjetunion, den schwedischen Bürger Raoul Wallenberg überhaupt jemals in ihren Gefängnissen gehabt zu haben.
Doch im Jahre 1989 übergab sie der Familie Wallenberg seine Kleidung, sein Geld, sein Tagebuch und seinen Pass. Er soll im Jahre 1947, unter welchen Umständen auch immer, verstorben sein. Im Jahre 2010 tauchten Dokumente auf, die vermuten lassen, dass Wallenberg noch länger gelebt haben könnte.
Berichtet wurde in einem Artikel in der FAZ vom 20.11. 2012, dass sich anlässlich des 100. Geburtstages von Raoul Wallenberg die Diplomatische Akademie in Wien während einer Tagung mit diesen Fragen beschäftigte. Teilnehmer war auch der russische „Archivchef“ Christoforow. Aber auch er konnte das Geheimnis nicht lüften, doch seine Darlegungen deuteten auf eine kleine Öffnung der russischen Position hin.
Posthum wurden Raoul Wallenberg viele Ehrungen zuteil. Von der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel wurde er 1966 als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt. Das nebenstehende Foto zeigt einen Güterwaggon auf einer Brücke, ausgestellt in der Gedenkstätte, der zum Transport jüdischer Bürger benutzt wurde.
Die Stadt Budapest ernannte ihn zum Ehrenbürger. Viele Denkmäler erinnern an sein Wirken in der finstersten Zeit Deutschlands, so die bronzene Aktentasche Raoul Wallenbergs in seinem Geburtsort, das Wallenberg-Denkmal in Tel Aviv, oder das Mahnmal auf dem Gelände der Großen Synagoge in Budapest. Neulich bekam eine Freundin Post aus Kanada. Auf der Briefmarke prangte das Gesicht von Raoul Wallenberg.
Und eine Straße im Stadtbezirk Marzahn – Hellersdorf trägt seinen Namen.