Alter schützt vor Abenteuer nicht

Ein fliegender Hubschrauber

Ein fliegender Hubschrauber

von Barbara Ludwig

Vor einigen Jahren, ich war gerade Siebzig geworden, ‚lauste mich der Affe‘.
In Marzahn war Plattenfest. Ich lief auf dem Platz vor dem Freizeitforum an der Rednertribüne vorbei und hörte die Bürgermeisterin eine schöne Rede reden. Auf einmal vernahm ich, dass Hubschrauberrundflüge stattfänden und Interessierte ab unmittelbarer Nähe des S-Bahnhofes Marzahn in die Lüfte fliegen könnten, wenn sie denn wollten.

„So können sie Marzahn aus einer noch nie gesehenen Perspektive wahrnehmen“, hörte ich sie sagen.
Und sorgfältig wie sie war, nannte sie noch den Preis und die Uhrzeit der Abflüge.
Spontan eilte ich nach Hause, stellte die Einkaufstasche ab und im schnellen Lauf ging es zum Bahnhof, das heißt bis hinter dem Bahnhof zur Rasenfläche, dorthin, wo ganz nah der Friedhof liegt. – Nun ja, weit hätte man‘s ja nicht . . .

Schon von der Bahnhofsbrücke aus sah ich viele Schaulustige stehen. Dort angekommen, bemerkte ich, dass Nummern für die Reihenfolge der Mitfliegenden ausgegeben wurden. Ich bekam keine, weil die nächsten Flüge bereits ausgebucht waren und das Ende der Flüge angemerkt wurde. Schade.

Doch jetzt schlichen sich ohnehin Bedenken zum Flug in mein Inneres. Einige der dort Stehenden nämlich äußerten leise und, wie mir schien, ein klein bisschen verschämt, aber immerhin ehrlich, Angst zu haben und wollten wohl lieber nicht fliegen.

Ich, wieder obenauf, dachte: „Wenn das wirklich so ist, bekomme ich vielleicht noch ein Ticket. Wenn ich keins bekomme, dann – meine Bänglichkeit einbeziehend – bin ich ebenfalls froh.“

Also, nahm ich mir vor, wie es auch kommt, eine Freude wird es in jedem Fall.
Jetzt landete ein Helikopter mit heftigem Propellergekreise und starkem Getöse. Klein war er. So hatte ich ihn mir nicht vorgestellt. Ein großer, mächtig aussehender wäre mir lieber gewesen. Ich wusste, von Belang ist das nicht, aber die Einbildung, ein stark wirkendes Fluggerät müsse auch sicherer sein, war enorm.

Die wenigen Fluggäste stiegen aus, mit frohem Blick und geröteten Wangen, wie ich so einigermaßen sehen konnte. In unmittelbarer Nähe standen bereits die nächsten Mitfliegenden. Ruck, zuck füllte sich das Fluggerät wieder. Ich zählte. Nur fünf Personen hatten Platz, einschließlich des Piloten.

Dieser Vorgang wiederholte sich noch zwei- oder dreimal.
Dann erhielt ich ein Flugticket! Ich war überrascht! Eine Frau hatte ihres zurückgegeben und der verantwortliche Organisator dachte es mir zu. Ich weiß gar nicht, ob ich die Nächste in der Reihe war. Meine Konzentration galt dem Fluidum des Platzes.

Kurze Zeit später lärmte der nächste Hubschrauber heran, landete sicher auf dem vorgeschriebenen Platz.
Ich stand noch in der Reihe. Vor lauter Faszination hatte ich gar nicht bemerkt, dass ich mich zu den nächsten Fluganwärtern hätte begeben müssen. Schnell erreichte ich die kleine Gruppe. Und schon stiegen die ersten ein.

Ich war die Letzte. Aber, o graus, die Stufe war so hoch, dass ich kaum in der Lage war, sie zu ersteigen. In meiner Not bat ich den jungen Mann, dessen Platz neben dem meinen war, mir seine Hand zu reichen, damit ich mich hochziehen konnte. Etwas verdutzt, er schien mit seinen Gedanken beschäftigt, kam er meiner Bitte nach. Platz genommen, angeschnallt und schon stieg die Maschine mit Getöse in die Luft.

Meine Gefühle lassen sich nicht beschreiben. Schauen, staunen, nichts verpassen wollend und dabei, ich gebe es zu, etwas Angst habend. Ich hielt mich an einem Haltegurt neben meinem Platz fest, wohl wissend, dass das eigentlich lächerlich war. Aber, naja . . .

Ich sah Brücken, Gleise, eine fahrende Bahn, einen kleinen See, Straßen und viel Grün. Und dann auf einmal mein Wohngebiet! Gut zu erkennen durch die drei Hochhäuser in der Nähe und den kleinen Bogen, den die Straße machte. Genau in dem Bogen wohnte ich! Ich hätte schreien können vor Freude, blieb doch lieber stumm.

Danach flogen wir über Biesdorf, Hellersdorf, Kaulsdorf; Mahlsdorf sahen wir von weitem. Total beeindruckt war ich über die, für meine Begriffe, riesengroßen Flächen mit bebauten Grundstücken. Die kleinen Wohnhäuser in Bezug zu den Großbauten sahen aus der Ferne wie Spielzeug aus, umgeben vom Grün ihrer Gärten. So schön hatte ich mir unseren Bezirk nicht vorgestellt.

Höchst eindrucksvoll. Niemals werde ich das vergessen. Hier hat Alzheimer keine Chance.
Zurück flogen wir an Springpfuhl vorbei, sahen die drei überhohen Wohnhäuser und bald einen Wald. Ein Wald? Wo sind wir? Jetzt erspähte ich das Dach des Eastgates und wusste, der Wald war der Friedhof. Das war das Ende des Fluges.
Nein, nicht so, wie Sie jetzt denken!

Ein paar Meter noch und der Hubschrauber setzte zur Landung an. Haargenau erreichte der Pilot die Stelle des Abfluges. Wunderbar hatte er uns über die Dächer Marzahns geflogen. Danke! Jetzt musste ich als Erste aussteigen. Der Organisator reichte mir seine Hand und ich stieg leicht springend herab.

Ich lief ein paar Schritte. Wohin? Zum Bahnhof? Nein, jetzt musste ich allein sein, kehrte um und eilte zum Friedhof. In mir war höchste Begeisterung und mächtiger Stolz über das gelungene Wagnis. Ich strahlte und lachte in mich hinein. Nicht ein bisschen konnte ich

gemäßigt drein schauen und war nicht fähig, es auch nur im Geringsten zu verbergen, was man ja auf einem Friedhof tunlichst sollte. Deswegen suchte ich die ganz stillen Wege auf, um keinem Menschen zu begegnen.
„Die Toten werden es mir verzeihen“, dachte ich.

Und ich glaube, sie haben mir verziehen; die Sonne lachte über alle Maßen und die Toten schienen fröhlich einzustimmen.