Ein Werkstattgebäude wird zum Grenzhaus
Der ungewöhnlichste Mauerort in Treptow ist das Atelierhaus der Kunstfabrik am Flutgraben – sein expressionistisches Erscheinungsbild mit der markanten Backsteinarchitektur prägt die Uferkante des Flutgrabens im Anschluss zur Spree. In dem ehemaligen Werkstattgebäude zeugen bis heute zahlreiche Spuren von seiner wechselvollen Geschichte als Grenzgebäude.
Es ist das einzige Ost-Berliner Grenzhaus, das den Auf- und Ausbau der Sperranlagen überdauert hat. Hier, direkt an der Nahtstelle von Ost und West, gab es weder einen mit Sperrelementen bewehrten Grenzstreifen, noch eine Mauer, vielmehr reichte das Werkstattgebäude mit der Grenzwand bis an West-Berlin heran. Seine zum Flutgraben weisende Gebäudewand bildete somit die Grenze zum Westteil der Stadt. Das Gebäude war dabei auch weiterhin Werkstatt des ansässigen VEB OLW und damit Arbeitsstätte für viele Arbeiter – unter ständiger Beobachtung vom Staat gingen sie ihrer Arbeit nach. Grenzsoldaten gingen im Haus und auf dem Dach Patrouille. Das gesamte Gebäude wurde abgeschottet und verbarrikadiert – wie ehemalige Betriebsangehörige berichten, verwandelte sich ihr Arbeitsplatz in eine Art „Hochsicherheitstrakt”.
Die Fenster, Treppenhäuser und sogar die Laubengänge der 150 Meter langen Fassade an Flutgraben und Spree wurden zum Teil mit Gittern, Blechen und Mauern dreifach verschlossen – bis die Fassade vollständig verbarrikadiert war. Selbst vor die kleinsten Dreiecksfenster über den Fensterbändern im Treppenhaus – in 13 Metern Höhe ! – wurden Bandeisen geschweißt, um das Öffnen und Durchklettern zu verhindern. Schließlich wurden sogar die Fensterscheiben der Glas-Eisen-Wand im 1. OG, welche die Meisterbüros von der Werkhalle trennten, mittels eines Farbanstrichs blind gemacht, so dass die Arbeiter in der Halle keinen Blick in die direkt an der Grenzmauer gelegenen Büros hatten. Manche Eingriffe waren das Ergebnis der systematisch betriebenen “Grenzsicherung”, andere Maßnahmen erfolgten als unmittelbare Reaktion auf eine gelungene Flucht.
So war das Abschlagen der Zierklinker über dem Eingangsbereich – fünf ehemals hervorspringende Reihen Zierklinker im Bereich zwischen Erdgeschoss und 1. OG – eine bauliche Reaktion auf eine erfolgreiche Flucht und diente zur weiteren Absicherung des Grenzgebäudes. 1962 hatte sich ein Mann daran entlang des Gebäudes bis zum Flutgraben gehangelt und sprang über die Grenze in den Westen. Bei der Fassadensanierung in den 1990er Jahren wurden diese Spuren erhalten. Auf dem Dach des Gebäudes finden sich die auffälligsten Grenzspuren: Auf dem 20 Meter hohen Flachdach mit Blick über Spree und Osthafen wurden 1988 Laufstege errichtet, auf denen die patrouillierenden Grenzsoldaten das Gebäude und die umliegende Sperrzone des Grenzstreifens kontrollierten und sicherten. Noch heute sind die Laufstege mit Treppen, Leitern, Resten von Flutscheinwerfern, Stümpfen von Peitschenlampen und der kleinen Ausstiegsluke vorhanden.
Über die baulichen Zeugnisse hinweg birgt das Gebäude noch eine ganz andere Art von historischen Quellen – in einer Vielzahl, wie sonst an keinem anderen Ort in Berlin: Im Dachgeschoss haben Grenzsoldaten, Wehrpflichtige, die an diesem Postenpunkt eingesetzt waren, selbst Spuren hinterlassen – sie haben sich verewigt mit Inschriften, die sie während Ihres Wachdienstes auf dem Dachboden an Decken und Wänden zurückgelassen haben. In dem Bereich ihres Aufenthaltsraumes finden sich etwa 50 solcher Nachrichten, Kürzel und Zeichnungen – sie künden von dem sehnlichen Wunsch ihrem Dienst an der Grenze endlich entkommen zu können. Die Tage des Einsatzes wurden rückwärts gezählt und das Entlassungsjahr erwähnt.