»Die Hauptstadt« Ost-Berlin in den Achtzigern

Jewgenij Samjatin

»Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen« (William Faulkner)

Fotografien: Günter Steffen
Texte: Jewgenij Samjatin
Einrichtung und Lesung: Günter Jeschonnek
Lesung: Sonnabend, 29.05., + Sonntag, 11.09.2022, 20.00 Uhr

Die Hauptstadt - Ost-Berlin in den Achtzigern

In Anlehnung an den Aus­spruch des französischen Film­regisseurs Robert Bresson »Mach sichtbar, was vielleicht ohne dich nie wahr­ge­nommen worden wäre«, verspürte der Ost-Berliner Fotograf Günter Steffen zwischen 1984 und 1989 Lust und Ehrgeiz, einen Zyklus über Ost-Berlins Mitte, in der er selbst lebte und arbeitete, zu schaffen. Meistens in den frühen Morgen­stunden streifte er durch schein­bar un­berührte und menschen­leere Straßen, Plätze, Hinterhöfe, Ruinen und an der mon­strösen Berliner Mauer ent­lang und hielt so die traurige, geheim­nis­volle und geister­haft wirken­de Atmos­phäre mit seiner Klein­bild­kamera fest. Dieser Zyklus ist Zeugnis damali­ger Lebens­gefühle wie Hilf­losig­keit, Zerrissen­heit und Wut – oft aus­gelöst durch den viel­fachen Verlust von Freunden, die in den Westen aus­reisten. So bewahrte Steffen mit seinem erzähleri­schen Foto-Essay die morbide und melancho­lisch anmutende Vergan­gen­heit der Haupt­stadt der DDR vor dem Ver­gessen.
Dieser Unter­gangs­stimmung stehen ausgewählte Text­frag­mente aus dem 1920 in Sowjet­russland geschrie­benen dystopischen Roman »WIR« von Jewgenij Samjatin gegen­über. Es ist die alp­traum­artige Be­schreibung eines totali­tären und brutalen Über­wachungs­staates. In ihm agieren nur noch Menschen mit Nummern, deren ferne Utopie eine er­starrte und seelen­lose Gesell­schaft ist. Samjatin starb nach seiner Emigration 1937 in Paris. Bis 1988 standen seine Werke im Ost­block auf dem Index. Er wird nicht geahnt haben, dass sich seine er­schüttern­den Prophetien bis heute bewahr­heiten; totalitäre Herrscher treten Demokratie und Menschen­rechte brutal mit Füßen und brechen blutige Kriege vom Zaun.

Herausgeber Günter Jeschonnek, der bis zu seiner Aus­bürge­rung im Dezember 1987 in Prenzlauer Berg lebte, präsentiert das drei­sprachige und auf­wendig ge­stal­tete Foto-Text-Buch multi­medial und liest Texte Samjatins.