In Anlehnung an den Ausspruch des französischen Filmregisseurs Robert Bresson »Mach sichtbar, was vielleicht ohne dich nie wahrgenommen worden wäre«, verspürte der Ost-Berliner Fotograf Günter Steffen zwischen 1984 und 1989 Lust und Ehrgeiz, einen Zyklus über Ost-Berlins Mitte, in der er selbst lebte und arbeitete, zu schaffen. Meistens in den frühen Morgenstunden streifte er durch scheinbar unberührte und menschenleere Straßen, Plätze, Hinterhöfe, Ruinen und an der monströsen Berliner Mauer entlang und hielt so die traurige, geheimnisvolle und geisterhaft wirkende Atmosphäre mit seiner Kleinbildkamera fest. Dieser Zyklus ist Zeugnis damaliger Lebensgefühle wie Hilflosigkeit, Zerrissenheit und Wut – oft ausgelöst durch den vielfachen Verlust von Freunden, die in den Westen ausreisten. So bewahrte Steffen mit seinem
erzählerischen Foto-Essay die morbide und melancholisch anmutende Vergangenheit der Hauptstadt der DDR vor dem Vergessen.
Dieser Untergangsstimmung stehen ausgewählte Textfragmente aus dem 1920 in Sowjetrussland geschriebenen dystopischen Roman »WIR« von Jewgenij Samjatin gegenüber. Es ist die alptraumartige Beschreibung eines totalitären und brutalen Überwachungsstaates. In ihm agieren nur noch Menschen mit Nummern, deren ferne Utopie eine erstarrte und seelenlose Gesellschaft ist. Samjatin starb nach seiner Emigration 1937 in Paris. Bis 1988 standen seine Werke im Ostblock auf dem Index. Er wird nicht geahnt haben, dass sich seine erschütternden Prophetien bis heute bewahrheiten; totalitäre Herrscher treten Demokratie und Menschenrechte brutal mit Füßen und brechen blutige Kriege vom Zaun.
Herausgeber Günter Jeschonnek, der bis zu seiner Ausbürgerung im Dezember 1987 in Prenzlauer Berg lebte, präsentiert das dreisprachige und aufwendig gestaltete Foto-Text-Buch multimedial und liest Texte Samjatins.