Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin verhandelt heute in öffentlicher Sitzung über einen Teil der Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen (BVVen) vom 26. September 2021 (nämlich über die Beschwerden der Landeswahlleitung, der Senatsverwaltung für Inneres, Digitalisierung und Sport sowie der politischen Parteien AfD und Die PARTEI). Der Verfassungsgerichtshof neigt, wie die Präsidentin eingangs der mündlichen Verhandlung mitteilte, derzeit dazu, die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den BVVen insgesamt für ungültig zu erklären. Diese Wahlen müssten dann in ganz Berlin wiederholt werden.
Bei dieser Einschätzung des Verfassungsgerichtshofes handelt es sich um eine vorläufige Bewertung der Sach- und Rechtslage auf der Grundlage der zwischen den Beteiligten bisher schriftlich ausgetauschten Argumente und der vom Verfassungsgerichtshof beigezogenen Unterlagen.
Der Verfassungsgerichtshof hatte im März 2022 alle 2.256 Protokolle aus den Wahllokalen angefordert und hat diese in den zurückliegenden Monaten ausgewertet und in die Vorberatungen einbezogen.
Die Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichtshofes begründete die erste rechtliche Einschätzung des Verfassungsgerichtshofes wie folgt: Bereits die Vorbereitung der Wahl habe den rechtlichen Anforderungen voraussichtlich nicht genügt. Diese müsse von der Landeswahlleitung so organisiert werden, dass jede wahlberechtigte Bürgerin und jeder wahlberechtigte Bürger am Wahltag die Möglichkeit habe, eine vollständige und gültige Stimme unter zumutbaren Bedingungen in Präsenz abzugeben. Die für die Wahlen vom 26. September 2021 vorgehaltene Menge an Möglichkeiten in Präsenz abzustimmen habe diesen Anforderungen nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand nicht genügt. In der Folge sei es dann zu unzumutbar langen Wartezeiten vor den Wahllokalen, zur zeitweisen Schließung von Wahllokalen und zur Austeilung von zu wenig oder falschen Stimmzetteln gekommen. Es hätten „teilweise chaotische“ Zustände geherrscht, viele Wahllokale seien „völlig überlastet“ gewesen. Zudem habe ein Teil der Wählenden ihre Stimme abgegeben, während bereits erste Hochrechnungen in der Presse veröffentlicht wurden. Die aufgetretenen Wahlfehler seien nach dem jetzigen Stand der Beratungen auch mandatsrelevant. Das folge für viele Wahlkreise bereits aus der Zahl der konkret von Wahlfehlern betroffenen Stimmen. Im Übrigen müsse der Verfassungsgerichtshof berücksichtigen, dass die Vorgänge am Wahltag nur sehr lückenhaft dokumentiert worden seien und es sich bei den dokumentierten von Wahlfehlern betroffenen Stimmen nur um „die Spitze des Eisbergs“ handeln dürfte. Die vom Verfassungsgerichtshof auszusprechende Rechtsfolge müsse zur Herstellung eines verfassungskonformen Wahlergebnisses führen. Derzeit spreche viel dafür, dass dies nur durch eine vollständige Ungültigerklärung der Abgeordnetenhauswahl vom 26. September 2021 und der Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen erreicht werden könne. Die Integrität des Wahlergebnisses sei durch die Vielzahl und die Schwere der Wahlfehler insgesamt erheblich beschädigt. Tausende Wahlberechtigte seien betroffen.
Sollte der Verfassungsgerichtshof die Wahlen insgesamt für ungültig erklären, sei innerhalb von 90 Tagen nach der Verkündung der Entscheidung eine Wiederholungswahl durchzuführen. Alle bis zur Verkündung der Ungültigkeit erlassenen Rechtsakte des Abgeordnetenhauses blieben wirksam. Es sei bis zum Abschluss einer Wiederholungswahl zur Sicherstellung der Kontinuität staatlichen Handelns weiter berechtigt, seine Aufgaben wahrzunehmen.
Die Beteiligten – dazu gehören gemäß § 41 VerfGHG neben den Einsprechenden u.a. der Präsident des Abgeordnetenhauses, die Vorstehenden der Bezirksverordnetenversammlungen, die Bezirkswahlleitenden sowie die betroffenen Bewerbenden, die Abgeordneten und die Bezirksverordneten – haben im weiteren Verlauf der heutigen Verhandlung nun die Möglichkeit, zu dieser vorläufigen Einschätzung Stellung zu nehmen.
Nach Schluss der mündlichen Verhandlung wird der Verfassungsgerichtshof dann unter Einbeziehung der dort ausgetauschten Argumente seine endgültige Entscheidung beraten.
Gemäß § 29 Abs. 1 S. 5 des Gesetzes für den Verfassungsgerichtshof (VerfGHG) sollen zwischen dem Abschluss der mündlichen Verhandlung und der Verkündung der Entscheidung nicht mehr als drei Monate liegen. Sollte es in diesem Verkündungstermin bei der vorläufigen rechtlichen Einschätzung bleiben, müsste gemäß § 21 Abs. 3 S. 1 Landeswahlgesetz (LWahlG) binnen der nächsten 90 Tage nach dieser Entscheidung neu gewählt werden.
Vorsorglich wird erneut darauf hingewiesen, dass es in den Wahlprüfungsverfahren vor dem Berliner Verfassungsgerichtshof ausschließlich um die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen geht. Maßstab ist die Verfassung von Berlin. Über die Wahlen zum Bundestag in Berlin und deren Gültigkeit entscheidet der Bundestag in einem eigenen Verfahren.