Vor 30 Jahren – am 21. Mai 1992 – traf der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin seine erste Entscheidung. Sie betraf die Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen vom 24. Mai 1992 – VerfGH 20/92.
Die Errichtung eines Verfassungsgerichtshofes für das Land Berlin war bereits in Art. 72 der Berliner Verfassung von 1950 vorgesehen. Wegen der politischen Lage Berlins im geteilten Deutschland und damit zusammenhängender Vorbehalte der Alliierten gelang sie aber erst über vier Jahrzehnte später nach dem Fortfall des Vier-Mächte-Status‘ und der Herstellung der Deutschen Einheit. Im November 1990 verabschiedeten das Abgeordnetenhaus für die westlichen Bezirke und die Stadtverordnetenversammlung für die östlichen Bezirke im Wege der sog. Parallelgesetzgebung das Gesetz über den Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, das neben der Verfassung von Berlin und der Geschäftsordnung des Verfassungsgerichtshofes Rechtgrundlage für seine Arbeit ist. Der Verfassungsgerichtshof wacht über die Einhaltung der Berliner Verfassung durch die anderen Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte des Landes Berlin.
Am 26. März 1992 wählte das Gesamtberliner Abgeordnetenhaus die ersten neun Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes. Der erste Präsident des Verfassungsgerichtshofes war der Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Freien Universität Berlin Klaus Finkelnburg, Vizepräsident der spätere Justizsenator und nachfolgend Innensenator Ehrhart Körting. Im März 2000 wurde Professor Dr. Helge Sodan zum Präsidenten gewählt. Ab 2007 stand mit Rechtsanwältin Margret Diwell, die zuvor als Vizepräsidentin fungiert hatte, erstmals eine Frau an der Spitze des höchsten Gerichts Berlins, ihr folgte im Jahr 2012 Sabine Schudoma, die jetzige Präsidentin des Landessozialgerichts Berlin/Brandenburg. Seit 2019 wird die Präsidentschaft des Verfassungsgerichtshofes von Ludgera Selting ausgeübt und die Vizepräsidentschaft seit 2014 durch Dr. Robert Wolfgang Seegmüller.
Die Zahl der neu eingegangenen Verfahren wuchs im Laufe der Jahre von 55 im Jahr 1992 und 148 im Jahr 1993 auf 260 im Jahr 2020 und 231 im Jahr 2021 an. Die meisten Eingänge betreffen Verfassungsbeschwerden, mit denen Beschwerdeführende geltend machen können, durch die öffentliche Landesgewalt in ihren Rechten aus der Verfassung von Berlin selbst und unmittelbar verletzt zu sein. Im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand der Verfassungsgerichtshof erstmals mit seiner Entscheidung vom 12. Januar 1993 über die Verfassungsbeschwerde des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR Erich Honecker, wonach die Fortdauer des Strafverfahrens und der Untersuchungshaft gegen die Menschenwürde verstößt, wenn der Inhaftierte ausweislich ärztlicher Gutachten den Abschluss des Verfahrens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben wird – VerGH 55/92 – (wie alle älteren Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes abrufbar unter www.openjur.de).
Außerdem ist der Verfassungsgerichtshof für Organstreitverfahren zuständig, mit denen oberste Landesorgane oder andere durch die Verfassung von Berlin oder die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses mit eigenen Rechten ausgestattete Beteiligte Meinungsverschiedenheiten über die gegenseitigen verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten klären lassen können. Mit Beschlüssen vom 17. März 2021 stärkte der Verfassungsgerichtshof die demokratischen Rechte kleinerer Parteien, indem er die weitere coronabedingte Absenkung von Unterschriftenquoren für die Zulassung zu den Berliner Wahlen vom 26. September 2021 verlangte – VerfGH 4/21 und VerfGH 20, 20 A/21 – (abrufbar wie alle neueren Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes unter www.gesetze.berlin.de). Gegenstand von Organstreitverfahren gegen den damaligen Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung Dr. Dirk Behrendt – Urteil vom 4. Juli 2018 – VerfGH 79/17 – und den damaligen Regierenden Bürgermeister Michael Müller – Urteil vom 20. Februar 2019 – VerfGH 80/18 – waren die Grenzen verfassungsrechtlich zulässiger öffentlicher Äußerungen führender Politiker vor dem Hintergrund einer möglichen Neutralitätspflicht, die unter den gegebenen Umständen jeweils nicht überschritten waren. Im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle erklärte der Verfassungsgerichtshof mit Urteil vom 31. Oktober 2003 das Berliner Haushaltsgesetz 2002/2003 mangels hinreichender Darlegung einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und einer extremen Haushaltslage wegen Verstoßes gegen das Kreditbegrenzungsverbot für verfassungswidrig und nichtig – VerfGH 125/02. Eine Vielzahl von Entscheidungen betraf die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe, deren zugrundeliegende Vorschriften über Beteiligungen, Unternehmensverträge und die Tarifgestaltung überwiegend mit der Verfassung von Berlin vereinbar waren (insbesondere Urteil vom 21. Oktober 1999 – VerfGH 42/99 -, vgl. auch Urteile vom 20. Dezember 2011 – VerfGH 159/10 -, 14. Juli 2010 – VerfGH 57/08 – und 6. Oktober 2009 – VerfGH 63/08 -, Beschlüsse vom 20. Juni 2014 – VerfGH 51/13 -, 18. Juni 2014 – VerfGH 165/12 -, 14. Juli 2010 – VerfGH 29/07 und 39/09 -, 6. Juli 2005 – VerfGH 205/04 – und 21. Oktober 1999 – VerfGH 71/99 -).