Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat vorgestern über die Verfassungsbeschwerde einer Abiturientin entschieden, die sich vergeblich um einen Studienplatz in Tiermedizin ab dem Wintersemester 2012/13 an der Freien Universität Berlin beworben hatte. Der Verfassungsgerichtshof hat zwar festgestellt, dass der zur Ermittlung der Aufnahmekapazität im Studiengang Tiermedizin vorgesehene Krankenversorgungsabzug nicht mehr verfassungsgemäß ist. Ein Zulassungsanspruch der klagenden Studienbewerberin im Eilrechtsschutzverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht folgt daraus aber nicht.
Die von der Beschwerdeführerin nach ihrer erfolglosen regulären Bewerbung beantragte Zulassung außerhalb der festgesetzten Kapazität lehnte die Freie Universität im Oktober 2012 ab. Der dagegen gestellte Eilantrag blieb beim Verwaltungsgericht und beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ohne Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht ging zwar davon aus, dass die in der Zulassungsordnung der Freien Universität festgesetzte Zahl von 170 Studienplätzen für Studienanfänger auf 171 hätte festgesetzt werden müssen. Da die Universität aber tatsächlich 173 Studienplätze vergeben habe, seien keine weiteren vorhanden. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin sei bei der Ermittlung der Aufnahmekapazität gemäß § 9 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 der Kapazitätsverordnung für das Land Berlin (KapVO) ein pauschaler Krankenversorgungsabzug in Höhe von 30 Prozent des Lehrangebots im Klinikbereich zulässig gewesen. Dies entspreche ständiger Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg und anderer Oberverwaltungsgerichte.
Der Verfassungsgerichtshof hat die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts im Ergebnis zurückgewiesen. Er hat aber ausgesprochen, dass der pauschale Krankenversorgungsabzug für die Lehreinheit Tiermedizin (nach § 9 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 KapVO) mit der Verfassung von Berlin unvereinbar ist. Absolute Beschränkungen des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf Hochschulzulassung sind nur bei erschöpfender Nutzung der vorhandenen, mit öffentlichen Mitteln geschaffenen Ausbildungskapazitäten verfassungsgemäß. Bei der Kapazitätsermittlung kommt dem Verordnungsgeber ein Gestal-tungsfreiraum zu, dessen Ausfüllung aber den Bedingungen rationaler Abwägung genügen sowie dem aktuellen Erkenntnis- und Erfahrungsstand entsprechen muss, um eine etwaige Kapazitätsminderung auf das unbedingt erforderliche Maß zu beschränken. Dabei trifft den Normgeber eine Beobachtungs- und Überprüfungspflicht sowie gegebenenfalls eine Pflicht zur Nachbesserung.
Diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben ist der Verordnungsgeber nicht gerecht geworden. Die letzte Erhebung von Daten zum Krankenversorgungsabzug in der Hochschultiermedizin liegt mittlerweile 28 Jahre zurück. Schon angesichts dessen kann derzeit nicht mehr davon ausgegangen werden, dass der Höhe des normierten pauschalen Abzuges von 30 Prozent Annahmen zugrunde liegen, die dem gegenwärtigen Erkenntnis- und Erfahrungsstand entsprechen. Auch liegen keine gesicherten Zahlen und Erkenntnisse aus neuerer Zeit für die Berliner Verhältnisse vor. Dies hat zur Folge, dass die Regelung in § 9 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 KapVO nicht mehr den Bedingungen rationaler Abwägung genügt und deshalb mit dem Kapazitätserschöpfungsgebot aus der Verfassung von Berlin unvereinbar ist.
Entgegen der Ansicht der Freien Universität war der Verfassungsgerichtshof nicht gehindert, die Berliner Kapazitätsverordnung am Maßstab der Berliner Verfassung zu überprüfen und zu beanstanden. Weder den fortgeltenden Bestimmungen des Hochschulrahmengesetzes noch der durch den Staatsvertrag der Länder über die Errichtung der Stiftung für Hochschulzulassung auferlegten Pflicht zur Entwicklung (bundes)einheitlicher Maßstäbe für die Festsetzung von Zulassungszahlen lässt sich ein vorrangig zu beachtender abweichender Maßstab entnehmen. Vielmehr müssen auch diese Normen dem bundes- wie landesverfassungsrechtlich geltenden, aus den Grundrechten abgeleiteten Kapazitätserschöpfungsgebot entsprechen. Außerdem berührt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit von § 9 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 KapVO Berlin nicht die zentrale Vergabe der festgesetzten Studienplätze durch die Stiftung für Hochschulzulassung.
Da ohne weitere Ermittlungen zu den aktuellen Verhältnissen keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen anderen Krankenversorgungsabzug erkennbar sind, kann der Verfassungsgerichtshof nur die Unvereinbarkeit der Berliner Regelung feststellen. Eine Nichtigerklärung kommt nicht in Betracht, da hierdurch – wegen der sich aus einem vollständigen Wegfall des Krankenversorgungsabzugs ergebenden deutlich höheren Zulassungszahlen – ein Zustand eintreten könnte, welcher der verfas-sungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als der jetzige. Der Verfassungsgerichtshof hat dem Verordnungsgeber die Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes bis zum Beginn des Vergabeverfahrens für das Wintersemester 2015/16 aufgegeben.
Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin,