Jüdische Musik und Kultur auf dem Wasser

Ahoi! Sie ist 67 Meter lang und legt an verschiedenen Punkten an der Spree, dem Wannsee und der Havel an, um jüdische Kultur – Musik, Theater und Literatur – einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die MS Goldberg zeigt, wie vielfältig und unterhaltsam jüdische Kultur ist und wie sie so dazu beitragen kann, mehr Verständnis unter Menschen aller Glaubensrichtungen zu bewirken.

Von Judith Kessler

Die MS Goldberg an ihrem Anlegeplatz.

Die MS Goldberg an ihrem Anlegeplatz.

2022 nahm die MS Goldberg – das erste jüdische Kultur- und Theaterschiff in Deutschland – mit der Uraufführung eines Stücks über den Tenor Joseph Schmidt den Spielbetrieb auf. Nachdem sich jüdische und nichtjüdische Berliner Künstlerinnen und Künstler unter dem Motto „Mit Kunst und Kultur gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ in einem Verein zusammengefunden hatten und einen alten Lastkahn kauften. Mit ersten Fördermitteln wurde die MS Goldberg zu einem Theaterschiff mit 160 Plätzen umgebaut.

Seitdem organisiert das Team, ehrenamtlich und spendenbasiert, Kultur rund um das Stichwort „jüdisch“. Und zeigt sie dort, wo die Wasserstraße für das 67 Meter lange Schiff befahrbar ist und wo es anlegen kann, wie am Wannsee oder Schiffbauerdamm in Berlin und in Städten des Umlandes wie Eisenhüttenstadt oder Schwedt.

Da viele Menschen heute kaum noch etwas über das Judentum wissen und meist keine Jüdinnen und Juden kennen, bietet sich hier für alle die Gelegenheit, auf dem Weg der Unterhaltung eine vermeintliche Minderheiten- Kultur als etwas (wieder) zu entdecken, das schließlich Bestandteil der deutschen Kultur war und ist, das zu „Tikun Olam“, zur „Heilung der Welt“, beitragen kann und das Spaß macht.

Das Ensemble „Daddy Rabbit New York“ auf der Bühne der MS Goldberg.

Das Ensemble „Daddy Rabbit New York“ auf der Bühne der MS Goldberg.

Im Musiksegment widmet sich das Programm so vergessenen Komponisten wie Paul Ben-Haim, erinnert mit „Operette sich, wer kann“ an Giacomo Meyerbeer oder Paul Abraham, stellt argentinischen Tango mit jüdischen Wurzeln vor, jüdischen Sowjet-Swing, amerikanisch-jüdischen Jazz, Klezmer aus Istanbul oder Soul aus New York. Die Chanson-Abende gelten berühmten Berlinern wie Kurt Tucholsky, Kurt Weill, Friedrich Hollaender oder den Comedian Harmonists und die musikalischen Lesungen etwa der Komponistin Fanny Hensel, der Salonnière Rahel Varnhagen oder der Lyrikerin Mascha Kaléko.

Die „Mauthausen-Kantate“, szenische Lesungen wie „Novemberprotokoll. Der Anfang der ,Endlösung der Judenfrage‘“ oder die Briefe Rosa Luxemburgs aus dem Gefängnis erinnern an Gedenktage, wozu auch Filme wie der über den emigrierten Erfinder Emanuel Goldberg gehören, der allein schon wegen seines Namens gut auf die MS Goldberg passt (die den ihrigen übrigens nach einem kleinen Ort in Mecklenburg hat). Klassiker wie Heines „Wintermärchen“, Scholem Alejchems „Jüdische Republik“ oder Isaac Singers „Paradies der Narren“ sind ebenso zu sehen wie Eigenproduktionen, so das Stück „shangHaimat“ über den Wiener Arthur Gottlein und sein Puppentheater im Shanghaier Exil. Besonders beliebt sind die „Specials“ zu Purim oder „Weihnukka“, bei denen das Publikum über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen jüdischen und christlichen Feiertagen staunt und sich wundert, wie viele der berühmten Christmas-Songs von Juden geschrieben wurden. Eine Reihe mit jungen jüdischen Autoren befasst sich unter anderem mit dem Lebensgefühl der Juden aus der Ex-Sowjetunion und mit dem in der untergegangenen DDR.

Junge Israelis, die nun in Berlin leben, bekommen Auftrittschancen wie die Kayan-Musiker mit ihrer Volksmusik der Levante, aber auch aus Syrien geflüchtete Talente, die mit einer orientalisch beeinflussten Interpretation der Goldberg-Variationen von Bach beeindrucken. Denn es gehört zum Goldberg-Konzept, aufzuzeigen, dass Judentum mehr ist als Klezmer, Nahost-Konflikt und Holocaust, nämlich eine ganz eigene Weltsicht mit vielen Anknüpfungspunkten zu anderen Kulturen und Perspektiven für eine multikulturelle Gesellschaft.

Konzertabend auf der MS Goldberg

Konzertabend auf der MS Goldberg .

Angesichts des in erschreckendem Maße wieder zunehmenden Antisemitismus ist das nicht immer einfach. Daher organisiert das Team Talkrunden wie „Was geht mich Judentum in Deutschland an?“ oder „Judensau und documenta“ über den Antisemitismus in Kunst und Kultur und hat ein besonderes Projekt ins Leben gerufen: „Meet a Rabbi“. In diesen kostenlosen Workshops für junge Menschen erklären Rabbinerinnen oder Kantorinnen jüdische Sitten und Gebräuche und die Teilnehmenden – beispielsweise die Auszubildenden der Polizeiakademie Berlin, unter denen viele einen Migrationshintergrund haben – können alle Fragen stellen, die sie bewegen. Meist kommt es dabei schnell zu Diskussionen wie über die Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen und meist gehen sowohl die christlichen als auch die muslimischen Jugendlichen mit einigen Klischees weniger von Bord.

Einzigartig an der „Goldberg“ ist, dass sie zu den Menschen kommt, dass sie jeden – ob jung, alt, Atheist, Muslima, Verkäufer oder Professorin – anspricht, sie alle durch die besondere Raumsituation automatisch eng mit Künstlern und dem Team in Kontakt kommen und sich so Gespräche ergeben, die genauso dazu beitragen, Klischees und Berührungsängste abzubauen, wie die Veranstaltungen selbst. Dass das Publikumsinteresse nach dem mörderischen Überfall der Hamas auf Israel noch einmal spürbar angestiegen ist, ist dem Team Ansporn und Fingerzeig, dass es mit seinem Konzept „Juden(tum) zum ,Anfassen‘“ auf dem richtigen Weg ist.