Herr Chialo, mit Musik kennen Sie sich richtig gut aus. Bevor Sie Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt wurden, waren Sie unter anderem als Musikmanager und Chef einer Plattenfirma im Popbereich in Berlin tätig. Wenn Sie an Musik in und aus Berlin denken, was kommt Ihnen sofort in den Sinn?
Wenn ich an die Berliner Musikszenen denke, sehe ich ganz unterschiedliche Bilder vor mir: die von einer Pyroshow erhellte Uber-Arena, DJs in ehemaligen Fabrikgebäuden, das Konzerthaus, Open-Mic-Contests, ein Symphonieorchester … Und genau das macht diese Szenen auch aus – enorme Vielfalt und krasses kreatives Potential.
Berlin hat im Bereich der Hochkultur deutschlandweit mit die größte Dichte an Orchestern, Ensembles, Musiktheatern und Chören. Teilweise sind diese weltweit bekannt. Welche Bedeutung für die Stadt und ihr gesellschaftliches Leben hat es, diese Dichte aufrechtzuerhalten und in die Zukunft zu führen?
Man hört mich oft sagen, dass Kultur der Kitt ist, der uns als Gesellschaft zusammenhält. Das gilt auch für die klassische Musikkultur – egal ob sie von der Staatskapelle oder vom Amateurensemble nebenan produziert wird. In Berlin haben wir einzigartige Rahmenbedingungen, Strukturen und ein großes Spektrum, das es unbedingt zu bewahren gilt. Als kulturelles Gemeinschaftserlebnis genauso wie als Tourismus- und Standortfaktor.
Eine Ihrer ersten Aufgaben als Kultursenator des Landes Berlin war es, einen neuen Generalmusikdirektor für die „Staatsoper Unter den Linden“ zu finden. Maestro Daniel Barenboim, der 2023 Ehrenbürger Berlins wurde, geht in den Ruhestand. Was haben Sie im Zuge der Suche nach dem geeignetsten Nachfolger über Berlin als Musik-Standort gelernt beziehungsweise neu erfahren?
Vor allem dass wir stolz sein können auf das, was unsere Hauptstadt bietet. Darauf, wie viele große Musikerinnen und Musiker, Dirigentinnen und Dirigenten hier schon gespielt haben und wirken, wie viele davon sich Berlin als Wahlheimat ausgesucht haben – zum Beispiel zuletzt Christian Thielemann, der Generalmusikdirektor an der Staatsoper wird.
Musik in all ihren Facetten ist nicht nur eine künstlerische Ausdrucksform, sondern ein verbindendes Element zwischen den Kulturen und Religionen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist ein Teilgebiet Ihres Hauses. Welche Chancen erkennen Sie darin, Musikerinnen und Musiker aller Genres, Herkunft und Glaubensrichtungen zu fördern, sich gerade für diesen Zusammenhalt einzusetzen?
Eine entscheidende Chance. Denken Sie – Stichwort Daniel Barenboim – an das West-Eastern Divan Orchestra, das zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikerinnen und Musikern besteht. Oder an all die Residencies und Stipendien, die das Musicboard (Anm. d. Redaktion: die Berliner Fördereinrichtung für freie Musik und Festivalkultur) möglich macht. Das sind Projekte, bei denen Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Weltanschauungen zusammenkommen, um gemeinsam Musik zu machen. Die dabei die Welt des jeweils anderen entdecken. Ich glaube, es gibt wenig, das Vorurteile besser abbaut. Diskriminierung und Ausgrenzung brauchen Vorurteile als Nahrung – ohne die hat die Spaltung unserer Gesellschaft keine Chance.
Aber nicht nur die musikalische Hochkultur Berlins ist weltbekannt. Berlin steht ebenfalls für eine diverse Club-und Festival-Struktur, die junge Menschen aus vielen Ländern nach Berlin zieht. Wie würden Sie den Leserinnen und Lesern der „aktuell“, deren Groß-und Urgroßenkel nach Berlin kommen, erklären, warum gerade die Musik und das Nacht-und Kulturleben der Stadt so anziehend sind?
Viel davon erklärt sich aus der Geschichte als geteilter Stadt. Nirgendwo in Deutschland war die Teilung in West und Ost, nirgendwo war das Abenteuer der Wiedervereinigung so spürbar wie in Berlin. Wo Welten aufeinanderprallen, entsteht immer auch Kreativität. In Berlin bedeutete das die Geburt des Techno, eine Stadt mit drei Opern, eine reiche Erinnerungskultur – natürlich auch an die Zeit vor 1945. All das und mehr führt jährlich Millionen von Menschen nach Berlin. Manche wollen im Berghain, einem der bekanntesten Techno-Clubs der Welt, durchfeiern, andere die Mauerreste mit eigenen Augen sehen, wieder andere durchstreifen lieber unser Gallery Weekend oder die Art Week. Manche auch alles nacheinander. Berlin ist eine Stadt der Vielfalt.