Die frauenbewegte und promovierte Volkswirtin gehört heute zu den (fast) vergessenen Frauen, die sich als die „Dritte Generation“ der Frauenbewegung bezeichneten und zu ihrer Zeit die soziale Frauenarbeit als professionellen Beruf maßgebend geprägt hatten.
Von Manfred Berger
Hildegard Gudilla, von frühester Kindheit Hilde genannt, entstammte einer wohlhabenden und seit vielen Generationen in Hamburg ansässigen jüdischen Kaufmannsfamilie. Sie erblickte am 14. Mai 1893 als zweites von vier Kindern, wovon eines in sehr jungen Jahren starb, in der Hansestadt das Licht der Welt. Die Geschwister wuchsen nach der Scheidung der Eltern, entsprechend der damaligen Rechtslage, beim Vater auf. Ihre Bildung und Erziehung lag überwiegend in den Händen von wechselnden Gouvernanten und Dienstmädchen. Hilde Lion erhielt die damals für Höhere Töchter übliche Lyzeumsbildung, die sie auf eine Tätigkeit als Lehrerin vorbereitete. Die junge Lehrerin hörte 1916 auf einer Frauenversammlung die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer (1873-1954) reden und war unverzüglich hellauf begeistert, fasziniert von dieser charismatischen Frau. Fortan engagierte sich Hilde Lion n der Frauenbewegung. Von 1917 bis 1919 absolvierte sie die Ausbildung zur Wohlfahrtspflegerin in Hamburg an der dort neugegründeten „Sozialen Frauenschule“. An dieser unterrichteten Gertrud Bäumer und Marie Baum (1874-1964), die die Ausbildungsstätte in Personalunion leiteten. Auch die „Grande Dame“ der bürgerlichen Frauenbewegung, Helene Lange (1848-1930), war dort als Lehrerin tätig. Zeitlebens blieb Hilde Lion mit den drei Frauenrechtlerinnen verbunden, die ihr Engagement für die Frauenbewegung wesentlich beeinflusst hatten. Die Position der „Dritten Generation“ in der Frauenbewegung betreffend, resümierte Hilde Lion: „Wie wir als Frauen zu unserer Aufgabe in der Welt stehen, wollen wir erkennen und zum Ausdruck bringen. Nicht ein Programm, ein Bild des Wesens wollen wir zeigen… Wir sind Erben langerarbeitenden Besitzes. Daß wir keine Epigonen sind, haben wir zu beweisen.“.
Nach bestandenem Externenabitur und kurzzeitiger Tätigkeit als Parteisekretärin der „Deutschen Demokratischen Partei“ studierte die ausgebildete Wohlfahrtspflegerin Volkswirtschaft und Pädagogik an den Universitäten in Freiburg/Brsg., Berlin und Köln. In letztgenannter Stadt promovierte sie 1924 zum Dr. rer. pol. mit einer Arbeit über „Die klassenkämpferische und die katholisch-konfessionelle Frauenbewegung“. Die Dissertation erschien zwei Jahre später unter dem Titel „Zur Soziologie der Frauenbewegung“ und zählt heute noch zu den Standardwerken der Literatur zur Frauenbewegung, wenngleich sie seinerzeit äußerst kritisiert rezensiert wurde. Diesbezüglich ist nachzulesen: „Die Anlage der Arbeit ist deshalb von vornherein falsch, weil die sozialistische und katholische Frauenbewegung nicht Frauenbewegungen sind, sondern sozialistische und katholische Bewegungen, angewendet auf Frauen oder getragen von Frauen. Es ist nicht richtig, die an sich erfolgreichen Bewegungen, die von wirklichen Mächten: dem Sozialismus und der katholischen Kirche geführt werden, mit jenem aus der Natur der Frau und gerade der bürgerlichen Frau, hervorgegangen intellektuellen, seelischen und moralischen Bewegungen zu verwechseln… Deshalb kann die Verfasserin ihre Aufgabe, nämlich ‚Urform und Eigengesetzlichkeit einer Idee‘ in ihrem Verhalten zu ‚verschiedenen Weltanschauungen und den sich ändernden gesellschaftlichen Zuständen gegenüber‘ nicht lösen, weil sie in ihrer Hauptsache Unrecht hat, dass ‚die Idee der Frauenbewegung ursprünglich einfach sei‘“.