Die Erinnerung an das KZ Neukölln im Familien- und im Stadtgedächtnis
„Wow, and what a life!“, erzählt mir Helene, Tochter der heute 99-jährigen Bella W., die das Neuköllner KZ überlebte und später nach Kanada emigrierte. Ihre Mutter habe immer einen zufriedenen Eindruck gemacht und ein gutes Leben gelebt. Erst spät erfuhr Helene von den Erlebnissen ihrer Mutter in Lodz, Auschwitz und in Berlin-Neukölln: „It was hell on earth.“
Ich lernte Helene über die Vermittlung von Amelie Müller aus der Berliner Senatskanzlei kennen. Seitdem habe ich oft mit ihr über den Ort in meiner Nachbarschaft und seine Geschichte gesprochen. Im April 2023 kam sie auf Einladung des Museums Neukölln nach Berlin. Sie besuchte das Gelände, auf dem ihre Mutter Bella und deren Leidensgenossinnen acht Monate lang um ihr Leben bangten. Doch eine würdevolle und zeitgemäße Erinnerung an diesen Ort der Shoah fand sie nicht vor.
Nur wenige Zeichen weisen Passanten auf ein Angebot zum Erinnern hin. Hier eine kleine Gedenkplakette, unscheinbar neben einem Verbotsschild an den Drahtzaun des Kleingartenvereins gehängt. Über den Alltag im Lager oder die Zwangsarbeit bei Krupp ist kaum etwas in Erfahrung zu bringen. Ein QR-Code, der hier weitere Informationen geben könnte, führt ins Leere.
Passiert jemand nach Einbruch der Dunkelheit den Fußweg an der Sonnenallee 181-187, so mag mit etwas Glück der Blick auf eine Lichtprojektion am Boden, direkt gegenüber einer großflächigen Werbetafel, fallen. Glück ist vonnöten, denn die Installation ist nicht regelmäßig eingeschaltet und wenn, dann ist ihr Text oft unscharf. Dieser klärt immerhin – wenn auch knapp und einsprachig – über die Doppelrolle des Ortes im Zweiten Weltkrieg auf: „Auf diesem Gelände errichtete die Firma ´Nationale Krupp Registrierkassen GmbH´ für die Rüstung der Nationalsozialisten 1942 ein Zwangsarbeiterlager. Mehrere hundert Frauen waren hier eingeschlossen. Von 1944 – 1945 befanden sich über 500 jüdische Frauen aus Polen in diesem Lager. In diesen Jahren war hier eine Aussenstelle des Konzentrationslagers Sachsenhausen.“
In den 1980er-Jahren begannen geschichtsinteressierte Neuköllner und Neuköllnerinnen der Vergangenheit des Geländes an der Sonnenallee nachzuspüren. Ende der 1980er-Jahre fand ein von Bezirk und Senat initiierter Ideenwettbewerb statt, dessen Gewinner die Lichtinstallation war. Es gab Treffen zwischen erinnerungskulturell engagierten Personen und Überlebenden des KZ. Ein Gedenkstein wurde 1991 im Beisein des Bürgermeisters des israelischen Bat Yam durch den Bezirk Neukölln eingeweiht. Heute ist er verborgen hinter dem Zaun des Sportgeländes, die Lichtinstallation ist marode und wird nicht im Sinne des Künstlers, der sie beweglich und partizipatorisch konzipierte, umgesetzt.
Viele Menschen, vor allem aus der zweiten und dritten Nachkommengeneration, wünschen sich eine Neugestaltung des Gedenkens in der Sonnenallee. So könnten die historischen Informationen überarbeitet werden, ihre Präsentation sollte zweisprachig und abseits von Werbetafeln und Verbotsschildern erfolgen. Ein virtueller Lernraum ermöglichte es, vertiefende und verknüpfende Informationen anzubieten und Kooperationen mit lokalen Bildungseinrichtungen könnten etabliert werden. Auch die direkte Einbindung der Nachkommengeneration ist möglich.
Der Informatik-Professor Dov D., dessen Mutter Tova Z, ebenfalls in Neukölln inhaftiert war, bot bereits an, Vorträge über seine Mutter für Neuköllner Schülerinnen und Schüler zu halten. Berlin sei eine schöne und aufregende Stadt. Er komme gerne hier her.
Autoren-Info
Leon Kloke (Jahrgang 1984) ist Historiker und Grundschullehrer. Derzeit arbeitet er freiberuflich an verschiedenen erinnerungskulturellen Projekten und als Faktenprüfer für den Film. Das Thema der Erinnerung an das KZ Neukölln begleitet ihn nun bereits seit einigen Jahren.
Kontakt: leo.kloke@gmail.com