Das Konzentrationslager Neukölln – Ein Ort der Shoah in Berlin und sein drohender Verlust im Stadtgedächtnis

Lichtinstallation

Der Text der Lichtinstallation fällt bei Nacht auf den Gehweg der Sonnenallee. Seine Ränder sind unscharf, nicht immer ist die Projektion angeschaltet. Ursprünglich sollte die Projektion beweglich und der Text offen für partizipatorische Ergänzungen sein.

Zwischen September 1944 und April 1945 waren 500 jüdische Frauen in einem Neuköllner Konzentrationslager eingepfercht. Acht Monate zwischen Hoffnung und Todesangst, an deren Ende eine unwahrscheinliche Rettung stand. Mit ihnen überlebte die Erinnerung an das einzige innerstädtische KZ Berlins im Zweiten Weltkrieg.

Von Leon Kloke, Historiker

Das Neuköllner KZ 1944-1945 und in der Gegenwart

Im August 1944 wurden 500 Jüdinnen des Ghettos Lodz buchstäblich in letzter Minute vor den Gaskammern bewahrt. Die SS verschleppte sie aus Auschwitz zur Zwangsarbeit nach Berlin.

Die meist polnischen Frauen wurden dort in ein geräumtes Zwangsarbeiterinnen-Lager der Firma Nationale Krupp Registrierkassen eingewiesen. Das 1942 errichtete Lager war umzäunt, bestand aus drei Schlafbaracken und wurde nun vom KZ Sachsenhausen verwaltet.

Das KZ lag an der damaligen Braunauer Str., Ecke Thiemannstr. Heute befindet sich dort, an der Adresse Sonnenallee 181-187, eine kommunale Sportanlage und ein Kleingartenverein. Nahezu ein „Nicht-Ort“ (Marc Augé), dem es für die Mehrheit der Vorbeieilenden an Identität und Geschichte fehlt und dessen Umzäunung seine Nicht-Öffentlichkeit noch unterstreicht. Nur wenige, fast unsichtbare Zeichen erinnern an das Konzentrationslager. Als Anwohner der Sonnenallee, begann ich mich mit dem KZ auseinanderzusetzen.

Familienfoto von Bella W., Lodz, vor 1939. Bella unten links sitzend, neben dem Familienhund Mushka und ihrer Mutter Malka.

dt.: Familienfoto von Bella W., Lodz, vor 1939. Bella unten links sitzend, neben dem Familienhund Mushka und ihrer Mutter Malka. Von den 10 Personen auf dem Bild konnten drei vor den Nazis in die UdSSR fliehen. Die Übrigen wurden nach Auflösung des Ghettos Lodz 1944 nach Auschwitz verschleppt. Von ihnen überlebte nur Bella.

Alltag, Überleben und Rettung

Im Lager gab es Waschmöglichkeiten, regelmäßige – wenngleich unzureichende – Mahlzeiten, keine Überbelegung und SS-Wachen zwischen wohlwollender Indifferenz und „gemäßigter“ Brutalität. Aktive Morde konnten in späteren Ermittlungen der Justiz nicht nachgewiesen werden. Eine Überlebende beschrieb das Neuköllner KZ als geradezu „paradiesisch“. Doch welche Bedeutung hat dies, wenn der Vergleich Auschwitz heißt?

Das Überleben im Lager hing von der Arbeitsfähigkeit der Frauen ab. Nach langen und schikanösen Morgenappellen mussten sie in zwölfstündigen Tages- und Nachtschichten bei Krupp arbeiten. Bei der Herstellung von Waffen und Munition kam es dort immer wieder zu schweren Verletzungen, Übergriffe durch die Vorarbeiter und Wachen waren die Regel. Die Androhung der Selektion implizierte die Ermordung und bestimmte das Leben der Frauen. Krankheit, Hunger und Erschöpfung waren Alltag und Konsequenz permanenter physischen Ausbeutung. Die Tuberkulose und zunehmende alliierte Luftangriffe führten zu Todesfällen.

Um den 20. April 1945 erfolgte die Verlegung der Frauen ins KZ Ravensbrück. Von dort wurden sie durch die „Weißen Busse“ des schwedischen Roten Kreuzes gerettet. Ohne diese wundersame Rettung wären vermutlich viele Frauen in Ravensbrück oder auf einem der Todesmärsche ums Leben gekommen. Nun konnten sie ihre physischen Wunden heilen, die seelischen aber blieben. In Schweden, den USA, Kanada oder Israel gründeten sie Familien und begannen, so gut es ging, ein neues Leben.

Erinnerungsplakette am Eingang zum Kleingarten-Verein NCR Neukölln.

Erinnerungsplakette am Eingang zum Kleingarten-Verein NCR Neukölln. Sie wurde vom Quartiersmanagement Richardplatz Süd eingerichtet.

Die Erinnerung an das KZ Neukölln im Familien- und im Stadtgedächtnis

„Wow, and what a life!“, erzählt mir Helene, Tochter der heute 99-jährigen Bella W., die das Neuköllner KZ überlebte und später nach Kanada emigrierte. Ihre Mutter habe immer einen zufriedenen Eindruck gemacht und ein gutes Leben gelebt. Erst spät erfuhr Helene von den Erlebnissen ihrer Mutter in Lodz, Auschwitz und in Berlin-Neukölln: „It was hell on earth.“

Ich lernte Helene über die Vermittlung von Amelie Müller aus der Berliner Senatskanzlei kennen. Seitdem habe ich oft mit ihr über den Ort in meiner Nachbarschaft und seine Geschichte gesprochen. Im April 2023 kam sie auf Einladung des Museums Neukölln nach Berlin. Sie besuchte das Gelände, auf dem ihre Mutter Bella und deren Leidensgenossinnen acht Monate lang um ihr Leben bangten. Doch eine würdevolle und zeitgemäße Erinnerung an diesen Ort der Shoah fand sie nicht vor.

Nur wenige Zeichen weisen Passanten auf ein Angebot zum Erinnern hin. Hier eine kleine Gedenkplakette, unscheinbar neben einem Verbotsschild an den Drahtzaun des Kleingartenvereins gehängt. Über den Alltag im Lager oder die Zwangsarbeit bei Krupp ist kaum etwas in Erfahrung zu bringen. Ein QR-Code, der hier weitere Informationen geben könnte, führt ins Leere.
Passiert jemand nach Einbruch der Dunkelheit den Fußweg an der Sonnenallee 181-187, so mag mit etwas Glück der Blick auf eine Lichtprojektion am Boden, direkt gegenüber einer großflächigen Werbetafel, fallen. Glück ist vonnöten, denn die Installation ist nicht regelmäßig eingeschaltet und wenn, dann ist ihr Text oft unscharf. Dieser klärt immerhin – wenn auch knapp und einsprachig – über die Doppelrolle des Ortes im Zweiten Weltkrieg auf: „Auf diesem Gelände errichtete die Firma ´Nationale Krupp Registrierkassen GmbH´ für die Rüstung der Nationalsozialisten 1942 ein Zwangsarbeiterlager. Mehrere hundert Frauen waren hier eingeschlossen. Von 1944 – 1945 befanden sich über 500 jüdische Frauen aus Polen in diesem Lager. In diesen Jahren war hier eine Aussenstelle des Konzentrationslagers Sachsenhausen.“

In den 1980er-Jahren begannen geschichtsinteressierte Neuköllner und Neuköllnerinnen der Vergangenheit des Geländes an der Sonnenallee nachzuspüren. Ende der 1980er-Jahre fand ein von Bezirk und Senat initiierter Ideenwettbewerb statt, dessen Gewinner die Lichtinstallation war. Es gab Treffen zwischen erinnerungskulturell engagierten Personen und Überlebenden des KZ. Ein Gedenkstein wurde 1991 im Beisein des Bürgermeisters des israelischen Bat Yam durch den Bezirk Neukölln eingeweiht. Heute ist er verborgen hinter dem Zaun des Sportgeländes, die Lichtinstallation ist marode und wird nicht im Sinne des Künstlers, der sie beweglich und partizipatorisch konzipierte, umgesetzt.

Viele Menschen, vor allem aus der zweiten und dritten Nachkommengeneration, wünschen sich eine Neugestaltung des Gedenkens in der Sonnenallee. So könnten die historischen Informationen überarbeitet werden, ihre Präsentation sollte zweisprachig und abseits von Werbetafeln und Verbotsschildern erfolgen. Ein virtueller Lernraum ermöglichte es, vertiefende und verknüpfende Informationen anzubieten und Kooperationen mit lokalen Bildungseinrichtungen könnten etabliert werden. Auch die direkte Einbindung der Nachkommengeneration ist möglich.

Der Informatik-Professor Dov D., dessen Mutter Tova Z, ebenfalls in Neukölln inhaftiert war, bot bereits an, Vorträge über seine Mutter für Neuköllner Schülerinnen und Schüler zu halten. Berlin sei eine schöne und aufregende Stadt. Er komme gerne hier her.

Autoren-Info
Leon Kloke (Jahrgang 1984) ist Historiker und Grundschullehrer. Derzeit arbeitet er freiberuflich an verschiedenen erinnerungskulturellen Projekten und als Faktenprüfer für den Film. Das Thema der Erinnerung an das KZ Neukölln begleitet ihn nun bereits seit einigen Jahren.
Kontakt: leo.kloke@gmail.com