Obwohl die Teilung schließlich alle Bereiche erfasst, bleibt die Deutsche Reichsbahn unter einheitlicher Leitung. Sie hat ihren Sitz in Mitte in der sowjetischen Zone, das ab 1949 zu Berlin, Hauptstadt der DDR, gehört. Um Rechte zu wahren, belässt es die DDR bei dem antiquierten Namen. Mit der S-Bahn werden Waren zwischen Ost und West geschmuggelt, und immer mehr Menschen nutzen sie als Fluchtvehikel. Auch wenn DDR-Behörden immer wieder versuchen, die Kontrollen zu intensivieren: Während das Straßenbahnnetz 1953 getrennt wird, hält die S-Bahn Berlin zusammen. „Über alle Sektorengrenzen hinweg rollt Deine S-Bahn“, steht auf Bannern. Personifiziert wird dies durch Friedrich Kittlaus, der bei der Reichsbahndirektion 24 Jahre lang für die S-Bahn zuständig ist. Der parteilose Vizepräsident lebt im Westen und hat sein Büro im Osten der Stadt, in Mitte.
13. August 1961: Umso größer ist der Schock in der Nacht zu diesem Sommersonntag. Fahrdienstleiter und Stellwerksmeister bekommen Besuch von Männern, die ihnen bislang unbekannt waren. Sie eröffnen ihnen, dass sie keine S-Bahnen mehr in den Westen lassen dürfen. Als die DDR damit beginnt, ihre innerstädtische Grenze mit Stacheldraht und anderen Sperren zu befestigen, leidet auch die S-Bahn. Gleisstücke werden herausgetrennt, Stromschienen gesenkt.
In West-Berlin schlägt die anfängliche Schockstarre bei manchen Bürgern in Wut um. „Wer S-Bahn fährt, bezahlt Ulbrichts Stacheldraht“: Unter diesem Motto rufen der Regierende Bürgermeister Willy Brandt (SPD) und der Deutsche Gewerkschaftsbund zum Boykott auf, den bei Umfragen 80 Prozent der Teilnehmer gutheißen. Auf die S-Bahn werden Steine geworfen und Sprengstoffanschläge verübt. Zwar bleibt sie betriebssicher. Doch die leeren Bahnhöfe, die betagten Züge und das wuchernden Grün atmen Melancholie. Das einst modernste Verkehrssystem wirkt in West-Berlin, das sich als glitzerndes buntes Schaufenster der Marktwirtschaft sieht, wie eine Museumsbahn.
Ganz anders sieht es im Osten der Stadt aus. Der Ausbau der U-Bahn wird durch den Mangel gebremst, die S-Bahn wird zum Rückgrat des Verkehrs. Bevor die Wohngebiete in Marzahn und anderswo komplett sind, fährt sie schon dorthin. Dagegen sinkt die Zahl der Fahrgäste im Westen der Stadt, wo die S-Bahn 1960 noch 200 Millionen Menschen befördert hat, bis 1983 auf drei Millionen. Dann wird die Reichsbahn den S-Bahn-Betrieb, der jährlich ein neunstelliges Defizit einfährt, endlich los. Ab 1984 befahren die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) ein nochmals geschrumpftes Netz.
Als Zwitter aus Verkehrsstation und Grenzübergangstelle, Intershop-Einkaufsparadies, Terroristen- und Agentenschleuse und Intershop-Einkaufsparadies nimmt der Bahnhof Friedrichstraße im Osten Berlins eine besondere Stellung ein. Nach der Grenzschließung 1961 endet die S-Bahn aus Richtung Zoo am Bahnsteig B – das war bereits acht Jahre zuvor vorbereitet worden. Die S-Bahnen in Richtung Ostkreuz fahren dagegen vom Bahnsteig C. Wer umsteigen will, muss die Grenzkontrolle passieren. Eine Stahlwand trennt die beiden Endstationen. Es gibt zwar weiterhin eine durchgehende S-Bahntrasse, doch sie wird nur für Betriebsfahrten aktiviert. Im Nord-Süd-Tunnel ist der Tiefbahnsteig D im Bahnhof Friedrichstraße der einzige Ort, an dem Fahrgäste noch ein- und aussteigen dürfen. Die anderen Stationen werden zu „Geisterbahnhöfen“, ebenfalls bewacht von Grenzsoldaten.
2. Juli 1990, 6.21 Uhr: Mit der Abfahrt nach Wannsee wird nicht einmal acht Monate, nachdem die Mauer zu fallen begann, der durchgehende S-Bahn-Betrieb auf der Stadtbahn wieder aufgenommen. Der Prellbock im Bahnhof Friedrichstraße, vor dem am 27. Mai 1983 der Versuch einer S-Bahn-Entführung unter Schüssen endete, kommt weg. Auf der wiederhergestellten Ost-West-Verbindung rollen Zuggruppen mit den Funknamen „Heinrich“, „Berta“, Cäsar“ und „Fee“. Ebenfalls am 2. Juli 1990 öffnet die Tunnelstation Oranienburger Straße als erster Geisterbahnhof wieder.