Von Kopf bis Fuß auf Kino eingestellt

Heiner Carow führte 1973 DEFA-Regie bei „Die Legende von Paul und Paula“ – ein Kultfilm aus DDR-Produktion

Heiner Carow führte 1973 DEFA-Regie bei „Die Legende von Paul und Paula“ – ein Kultfilm aus DDR-Produktion

von Oliver Ohmann, Autor und Journalist

Die Filmstadt Berlin kennt ihr Geburtsdatum. Am 1. November 1895 flimmerten die ersten bewegten Bilder im Wintergarten-Varieté an der Friedrichstraße. Max Skladanowsky präsentierte sein „Bioskop“. 1.500 Zuschauer erlebten im abgedunkelten Saal auf einer Leinwand Artisteneinlagen, Serpentinen-Tanz und ein boxendes Känguru. Jedes Filmchen dauerte nur Sekunden und wurde beklatscht wie eine sensationelle Zirkusnummer. Tatsächlich blieb die Kinematografie fast zwei Jahrzehnte vor allem ein Varieté- und Rummelplatzvergnügen, ausgeschlossen vom bürgerlichen Kunstgenuss.
Dies änderte sich in der Weimarer Republik. In den letzten Weltkriegsjahren hatte man den Film für Propagandazwecke entdeckt und die Ufa gegründet. In den 1920er Jahren stieg Berlin zu einer Weltmetropole des Films auf. Bis 1933 schaute man auf Augenhöhe nach Hollywood. Die Filme waren noch stumm. Für den weltweiten Vertrieb mussten nur Zwischentitel in die jeweilige Landessprache übersetzt und ausgetauscht werden – schon verstand man „Das Cabinet des Dr. Caligari“ in Chicago, „Dr. Mabuse“ in Moskau und „Metropolis“ in Buenos Aires.

Henny Portens Filmkarriere begann 1906, Regie bei „Meissner Porzellan“ führte ihr Vater | Henny Porten’s film career began in 1906, her father directed “Meissner Porzellan”

Henny Portens Filmkarriere begann 1906, Regie bei „Meissner Porzellan“ führte ihr Vater

Die Berliner Kinokunst schuf sich mit Henny Porten und Asta Nielsen ihre ersten gefeierten Superstars. Der 1892 geborene Ernst Lubitsch, aufgewachsen in Prenzlauer Berg, wurde vom Darsteller zum Regisseur und drehte Erfolgsfilme wie am Fließband. 1923 ging er nach Hollywood und fand seinen einzigartigen „Lubitsch-Touch“. Fritz Lang, G. W. Pabst und F. W. Murnau schrieben als Regisseure Filmgeschichte. Murnaus „Nosferatu“ (1922) begründete das klassische Genre des Horrorfilms. Fritz Langs „Metropolis“ verschlang 1925/26 sagenhafte fünf Millionen Mark. An 310 Drehtagen kamen 27.000 Komparsen zum Einsatz. Nicht zu vergessen: Das Mädchen aus Schöneberg, das über Nacht zum Weltstar wurde. Es hieß Marlene Dietrich und schiffte sich gleich nach der Premiere von „Der blaue Engel“ am 1. April 1930 im Gloria-Palast via Bremerhaven in die USA ein.

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 endete diese Glanzzeit der Filmstadt Berlin, abrupt und mörderisch. Der als „Propagandaminister“ auch für den Film verantwortliche Goebbels bemächtigte sich der Ufa. Jüdische und kommunistische Filmschaffende konnten bereits ab Frühjahr 1933 nicht mehr arbeiten. Viele emigrierten, vor allem jüdische Filmkünstler verließen Berlin – die meisten kehrten niemals wieder. Peter Lorre und Erich Pommer fuhren wie Fritz Lang nach Paris, Elisabeth Bergner und Conrad Veidt nach London, Fritz Kortner nach Wien, Gitta Alpar in die Schweiz. Drehbuchautor Billy Wilder verließ die Stadt, ebenso die Komponisten Werner Richard Heymann, Friedrich Hollaender und Jean Gilbert. Paul Abraham zog zurück nach Budapest, Artur Guttmann nach Wien. Etwa 2000 Filmschaffende verließen Berlin und Deutschland. Die meisten konnten im Ausland erst nach und nach im Beruf Fuß fassen, manche nie wieder. Einer der berühmtesten Hollywoodfilme aller Zeiten hat das Emigrantenschicksal zum Thema: „Casablanca“, gedreht 1942 in Hollywood. Viele Berliner Exilanten wirkten als Darsteller mit, darunter Peter Lorre und Conrad Veidt.

Die deutsche Filmindustrie blutete durch den Verlust der jüdischen Filmkünstler förmlich aus. Geistig und kreativ ging es mit der Filmstadt Berlin bergab, schließlich auch wirtschaftlich. Filme aus Nazi-Deutschland ließen sich kaum exportieren. Der mit viel Aufwand inszenierte Glanz der zwölf Ufa-Jahre im Dritten Reich war mehr Schein als Sein. Goebbels’ Filmimperium war ein Zuschussgeschäft.

Heinz Rühmann spielte 1937 (mit Hans Söhnker und Leny Marenbach) in „Der Mustergatte“ | Heinz Rühmann starred (with Hans Söhnker and Leny Marenbach) in “The Model Husband” in 1937

Heinz Rühmann spielte 1937 (mit Hans Söhnker und Leny Marenbach) in „Der Mustergatte“

Horst Buchholz, genannt Hotte, wurde 1956 zum Star in „Die Halbstarken“ | Horst Buchholz, known as Hotte, became a star in 1956 in “Wolfpack”

Horst Buchholz, genannt Hotte, wurde 1956 zum Star in „Die Halbstarken“

Man sagte später, die Emigranten hätten den Geist der Filmstadt 1933 mit in alle Welt genommen. Ein trostreicher Gedanke, nicht wahr? Denn die Filmproduktion des Dritten Reichs gehorchte anderen Gesetzen als denen des Genies. Goebbels ließ bis zuletzt vor allem Unterhaltungsfilme drehen. Propagandastreifen und antisemitische Hetzfilme wie „Hitlerjunge Quex“ oder „Jud Süß“ waren die Ausnahme, Filme wie „Romanze in Moll“ und „Die Feuerzangenbowle“ die Regel. Romanzen und Komödien gaukelten eine heile Welt vor, dienten als „Durchhaltefilme“. Ein teuflisches Spiel, bis Berlin zerstört und in Trümmern lag.

Der Neuanfang im Mai 1945 begann denn auch mit „Trümmerfilmen“. Ruinen bildeten die Kulisse, etwa für das Kriegsheimkehrer-Drama „Die Mörder sind unter uns“ mit Hildegard Knef. Indes teilte sich die Stadt politisch in Ost und West und dies betraf auch die Filmproduktion. Im sowjetischen Sektor entstand die volkseigene DEFA und übernahm bald das alte Babelsberg-Gelände. In den Westsektoren versuchten private Filmunternehmer ihr Glück. Unter ihnen Produzent Arthur Brauner, der die CCC-Studios in Haselhorst gründete. Mit Unterhaltungsfilmen verdiente „Atze“ viel Geld, das er verwendete, um gleichzeitig anspruchsvollere Filme zu produzieren, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandersetzten.

Berlin war seit den Anfangsjahren der bewegten Bilder das unbestrittene Filmzentrum Deutschlands. Nach Kriegsende verlor sich diese Rolle, vor allem verursacht durch Teilung und Mauerbau. In Ost und West entstanden weiterhin bedeutende Produktionen, doch an die große Zeit der 1920er-Jahre konnte die Filmstadt Berlin kaum anknüpfen. Rollenweise wurde im Westen vornehmlich seichte Kinokost gedreht, wogegen Anfang der 1960er-Jahre endlich der „Neue Deutsche Film“ aufbegehrte. Unter dem Motto „Papas Kino ist tot“ griffen junge Filmemacher wie Alexander Kluge, Ulrich und Peter Schamoni, Volker Schlöndorff und Rainer Werner Fassbinder ästhetisch auf die Meisterwerke der Weimarer Republik zurück. Sie thematisierten bestehende gesellschaftliche Konflikte und brachen das Schweigen über die Nazijahre, das nicht nur im bundesrepublikanischen Alltag, sondern auch in der Filmwelt der Nachkriegszeit verbreitet war. Die jungen Wilden schafften es sogar, die 1951 gegründete und 20 Jahre später ins Taumeln geratene „Berlinale“ wieder auf Kurs zu bringen. Mit dem „Internationalen Forum des jungen Films“ erhielt das junge und progressive Kino ein Podium. Es wurde als fester Bestandteil etabliert und zu einem Aushängeschild der Internationalen Filmfestspiele. Forum-Gründer Ulrich Gregor (Jahrgang 1932) und seine Ehefrau Erika waren 1963 bereits Mitbegründer der Freunde der Deutschen Kinemathek und schufen 1970 mit dem „Arsenal“ ein bedeutendes Programmkino zur „Pflege der Filmkultur aus aller Welt“.

Das Schlüter-Kino in der Charlottenburger Schlüter- straße, Kiezkino von 1912 bis 1996 | Schlüter Cinema, the neighbourhood cinema in Berlin-Charlottenburg from 1912 to 1996

Das Schlüter-Kino in der Charlottenburger Schlüterstraße, Kiezkino von 1912 bis 1996

Unmöglich hier sämtliche wichtigen Berlin-Filme der letzten Jahrzehnte aufzuzählen, darum nur eine Augenblicksaufnahme. „Eins, Zwei Drei“ wählten Leser der Tageszeitung „B. Z.“ im Februar 2022 zu ihrem Lieb¬lingsfilm. Regisseur Billy Wilder hatte Berlin 1933 verlassen müssen und emigrierte via Paris in die Vereinig¬ten Staaten. 1961 drehte er mit James Cagney, Horst Buchholz und Lilo Pulver wieder in Berlin. Dabei kam ihm im August der Mauerbau in die Quere und sein Film floppte zunächst. Denn Witze über die Ost-West-Trennung blieben dem Publikum im Halse stecken.

Den zweiten Rang in der Publikumsgunst erhielt „Die Legende von Paul und Paula“, der erklärte Lieblingsfilm von Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel, gefolgt von „Cabaret“ mit Liza Minnelli als Sally Bowles. Dabei ist „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders nicht genannt, es fehlt „Lola rennt“ und das Oscar-gekrönte Stasi-Drama „Das Leben der Anderen“. Schließlich hat jeder seine eigene Sicht auf die Filme der Filmstadt Berlin. Wir alle tragen unsere persönlichen Lieblings-filme und die damit verbundenen Erinnerungen mit uns. Sie sind Bestandteil unserer Seele, egal wo und wie weit von Berlin wir leben. Filme verbinden, örtlich über Kontinente hinweg und zeitlich über Generationen.

„Glauben Sie an die Zukunft des Kinos?“ wurde die Berliner Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin Margarethe von Trotta (Jahrgang 1942) kürzlich gefragt und sie antwortete im „Tagesspiegel“-Interview: „Ich liebe das Kino zu sehr, um nicht daran zu glauben.“

Oliver Ohmann, geboren 1969 in Charlottenburg, ist Autor und Journalist. Sein Buch „Klappe! – Die Geschichte der Filmstadt Berlin“ erschien 2022 im Elsengold Verlag, Berlin.

Marlene Dietrich starb 1992 in Paris, es war ihr Wunsch, auf dem Friedhof in Friedenau beigesetzt zu werden

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