Im Herzen immer ein Berliner - Die Korrespondenz zum Berliner Gedenkbuch

In seinem Buch "Im Herzen immer ein Berliner - Jüdische Emigranten im Dialog mit ihrer Heimatstadt" gibt Joachim Schlör Einblicke in die Korrespondenz zum Berliner Gedenkbuch

In seinem Buch "Im Herzen immer ein Berliner - Jüdische Emigranten im Dialog mit ihrer Heimatstadt" gibt Joachim Schlör Einblicke in die Korrespondenz zum Berliner Gedenkbuch

Es sollte „nur“ eine Sammlung von Namen und Daten für ein Gedenkbuch werden. Doch die Initiator*innen unterschätzten, welche Gefühle sie bei jüdischen Emigrant*innen mit ihrem Aufruf auslösen würden. Joachim Schlör hat die Korrespondenz zum Berliner Gedenkbuch gelesen und nun ein einfühlsames Buch dazu vorgelegt.

von Joachim Schlör, Kulturwissenschaftler und Professor am Parkes Institute for Jewish/non-Jewish relations an der University of Southampton

Yair Noam, Zeichnung "Diese Emigration"

Yair Noam, Zeichnung "Diese Emigration"

Im Dezember 1991 veröffentlichten Zeitungen wie der „Aufbau“ in New York und das „Mitteilungsblatt“ in Tel Aviv einen „Aufruf an Berliner“. Der Senat von Berlin beauftragte eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Dr. Klaus Sühl damit, ein Gedenkbuch über das Schicksal der Menschen zu erstellen, „die von 1933 bis 1945 in der ehemaligen Reichshauptstadt gewohnt haben und als Juden verfolgt wurden“. Die Gruppe trat auch in Verbindung mit „ehemaligen Berlinern“, die seit 1969 am Besuchsprogramm des Senats, dem sogenannten „Emigrantenprogramm“ teilgenommen hatten.

Das Gedenkbuch sollte eine ähnliche Funktion erfüllen wie einige Jahre später das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas: am Ort der vormaligen NS-Herrschaft an das Verbrechen zu erinnern, die Stadt und ihre Bewohner – gerade in der Zeit, als sie die Wiedervereinigung der Stadt feierten – mit dieser Erinnerung zu konfrontieren, den durch die antisemitische Politik der Nationalsozialisten aus dem Stadtleben ausgegrenzten, durch Gesetze und Verordnungen und durch Gewalt verfolgten, durch die Deportation planvoll in den Tod geschickten Berliner Juden ein Denkmal zu setzen, den Deutschen vom Verlust zu berichten, den diese Politik auch unserer Stadt zugefügt hat. Da nun die „ehemaligen Berliner“ von der kanadischen Arktis bis ins südliche Australien von diesem Plan Kenntnis nahmen, veränderte sich die Funktion des Gedenkbuchs. Der „Aufruf“ erreichte sie an ihren damaligen Wohnorten, rief aber in ihnen Erinnerungen an Berlin hervor und löste Gefühle und Aktivitäten aus. Zunächst war die Arbeitsgruppe mit der Fülle von Zusendungen überfordert – erst langsam ergab sich eine wirkliche Korrespondenz.

Mordechai Virshubski, Kulturstadtrat von tel aviv, mit Senatorin Hanna-Renate Laurien bei einem Besuch im Rahmen des Berliner Emigrantenprogramms

Mordechai Virshubski, Kulturstadtrat von tel aviv, mit Senatorin Hanna-Renate Laurien bei einem Besuch im Rahmen des Berliner Emigrantenprogramms

Denn bald wurde deutlich, dass die Angeschriebenen wohl bereit waren, die erwünschten Informationen zu geben. Aber sie hatten doch auch eine Geschichte – oder vielmehr: so viele unterschiedliche Geschichten – zu erzählen. Könnte das geplante Gedenkbuch nicht mehr werden als eine Sammlung von Daten? Könnte es nicht auch vom Leben in Berlin berichten: etwa von denen, die wie die Eltern von Leo Eisenfeld „glücklich waren, 1909 aus ihrer galizischen Heimat in das wohlständige, zivilisierte und kulturell hochstehende Berlin übergesiedelt zu haben“ – und von der Enttäuschung, die sie erleben mussten? Oder, wie Ehud Herbert Growald es formulierte, „von den übermenschlichen, geistigen und auch physischen Anstrengungen der Verfolgten – trotz allem – zu überleben“? Vom Leben in den Orten der Auswanderung und davon, wie sich in den Familien eine Erinnerung an Berlin erhalten hatte? Nach der Fertigstellung des Gedenkbuchs wurde die Korrespondenz dem Archiv der Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum übergeben. Die Archivarinnen gaben mir im Sommer 2017 die Gelegenheit, die 30 Ordner mit Briefen, alphabetisch geordnet, durchzulesen. Daraus ist ein Buch entstanden, in dessen Zentrum tatsächlich ein „Alphabet der Erinnerung“ steht, eine kommentierte Auswahl der unterschiedlichen Reaktionen auf die Idee des Gedenkbuchs – und eine außerordentlich vielfältige Sammlung von Berliner Gefühlen. Eingerahmt von Überlegungen zur jüdischen Geschichte und Literaturgeschichte Berlins, stehen die Stimmen der Emigranten und ihrer Angehörigen im Vordergrund. Beim Lesen der Briefe wurde mir klar, dass mit dem Aufruf zum Beitrag für ein Gedenkbuch Prozesse angestoßen wurden, die nicht von Anfang an im Sinne der Initiatoren lagen, nicht liegen konnten. Was ein Brief oder gar ein Besuch, ein längeres Gespräch, eine eben nur scheinbar harmlose Frage nach verbliebenen Dokumenten oder Gegenständen bei den Besuchten auslösen kann, wird oft gar nicht bedacht. Eine Korrespondentin schrieb aus Israel: „Über diese so einschneidende, mein Leben gefährdende, das Leben von Millionen vernichtende Zeit […] kann ich nicht ohne Bitterkeit & ohne den fürchterlichsten Schmerz schreiben, in dessen Zeichen mein Leben seit 58 Jahren steht.“ Es muss den Autoren und Bearbeitern klar gewesen sein (zumindest musste es ihnen bei der Konfrontation mit all diesen Nachrichten und all diesen Lebensberichten im Laufe der Jahre klar werden), dass ein Gedenkbuch nie imstande sein könnte, den Schmerz zu lindern oder gar einen Heilungsprozess in Gang zu setzen. Auf der anderen Seite wären ohne den Aufruf und ohne die Kommunikation mit der Projektgruppe manche Erinnerungen gar nicht niedergeschrieben worden. Durch den Aufruf zum Berliner Gedenkbuch sah zum Beispiel Leo Eisenfeld sich veranlasst, seine Erinnerungen doch einmal aufzuschreiben. Er hat sie nach Berlin geschickt, damit die Stadt und ihre heutige Bevölkerung die Geschichte seiner Familie – und die ihrer Verbundenheit zu Berlin – in die Geschichte der Stadt selbst wieder einschreibt. Er wollte nicht, dass sein Bericht als Teil einer Verwaltungsakte im Archiv verdämmert. Beim Nachschreiben und Nachdenken fällt dieser Satz immer wieder ins Auge: „Damals war doch Berlin immer noch unsere Heimat.“ Der Satz bildet das Band, mit dem der Autor die Geschichte seiner Kindheit und Jugend mit der Geschichte von Ausgrenzung und Flucht verbindet. Und Berlin ist der Ort, auf den sich alles bezieht – die Hoffnungen wie die Enttäuschungen.

Peter Theodor Landsberg, Schulaufsatz "Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?"

Peter Theodor Landsberg, Schulaufsatz "Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?"

Hinter den Namen und Daten, die in einem Gedenkbuch erscheinen, stehen ganze, vielfältige und komplexe Menschengeschichten. Sie geben Aufschluss darüber, wie einzelne Personen und Familien die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts erlebt haben, wie sie Niederträchtigkeit erfahren haben, aber auch Hilfe, wie sie Hoffnung und Enttäuschung erfuhren. Sie zeigen auch die Notwendigkeit – und oft genug den Schmerz – der Erinnerung. Marion Smith aus London äußerte am 28. April 1991 einen Wunsch: „Vielleicht wäre es angebracht, außer den nackten Tatsachen etwas Poesie einzuflechten? Natürlich haben bekannte Dichter (wie Berthold Viertel und Georg Mannheimer) über den Verlust ihres Heimatlandes und ihrer Muttersprache in Gedichten berichtet. Aber auch manche von uns „gewöhnlichen Emigranten“ hatten das Bedürfnis – besonders solange wir der englischen Sprache nicht ganz mächtig waren – über diese Dinge zu schreiben.“

Diese Stimmen hörbar zu machen, war mein Anliegen. Wie es in einer Rezension in der „Berliner Zeitung“ hieß, versucht das Buch, den „gewaltigen Raum“ auszumessen, in dem Berlin einerseits als „innig geliebte Heimat“, andererseits als „Epizentrum der Katastrophe“ dasteht – bis heute.