8. September 1938
Ich höre am Radio die Übertragung aus Nürnberg vom 5. Parteitag. Die Wolken ziehen sich immer mehr über Europa zusammen zu einem ungeheuren Unwetter. In Nürnberg aber jubelt ein gottloses Volk in wahnsinniger Eitelkeit und Hochmut dem Leben entgegen, ohne den vor ihm sich auftuenden Abgrund zu sehen. Morgen vor einem Jahr fuhr ich nach Karlsbad und heute ist das Fest der Geburt Marias, der Mutter Gottes, der Jüdin!
3. Februar 1939
Mein Geburtstag. Seit Wochen liegt ein dunkler Schleier über meinem Gemüt. In Olho d’Água (Strand in Sao Luís) am Meer fand ich immer wieder Ruhe und Frieden in der Natur, Ablenkung durch die Bekannten. Hier bin ich eingehüllt in mich selbst und nichts lenkt den leidenden Blick ab. Vater und Mama und Wolfgang machen mir schwere Sorge. Jetzt will der alte Mann auswandern, weil man ihn aus seiner Wohnung herauswirft. 70 Jahre, 35 Jahre preußischer Beamter und Offizier und jetzt wandert er aus mit seiner Frau als Bettler. Er will nach Chile zu den Kindern seiner Frau, dabei ernähren die Beiden sich kaum, wie soll das werden! Es ist alles so grausam und es liegt wie eine Erstarrung des Entsetzens über meiner Seele.
2. Juli 1939
Es gibt keine Ruhe in Europa solange die nationalsozialistischen Dämonen in Deutschland herrschen. Ich las dieser Tage mit Claudio: „Aus dem Leben eines Taugenichts”, von Eichendorff. Welche Perle der deutschen Literatur, wo ist dieses Deutschland hin, ein Deutschland mit frommem, kindlichen Geist, ein Deutschland der Güte und Schönheit? Hat es dies je gegeben, oder war es nur in der Brust des sehnsüchtigen Dichters?
2. September 1939
Gestern früh hat der Krieg begonnen mit einem Bombardement der Deutschen in Polen, in den nächsten Tagen werden Frankreich und England eintreten. Alles ist wie ein wahnsinniger Traum. Hitler hat eine seiner hysterischen Reden gehalten im Reichstag. Mit dem Reichstagsbrand hat es angefangen. Mit dem Weltbrand wird es aufhören. Wer in Deutschland ausländische Radiostationen aushört oder weitergibt, wird mit dem Tod bestraft. Lieber Gott, stürze diesen Teufel, den fleischgewordenen Satan: Hitler.
Rio de Janeiro, den 9. Juni 1940, St Clara 148 Haus 21
Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden denen, die guten Willens sind. In Europa tobt der Krieg, täglich fallen ihm Tausende zum Opfer und wir haben hier dies friedliche schöne Eckchen, diese hübsche, heitere Wohnung. Wie danke ich Dir Vater im Himmel, der Du uns so wunderbar führst, wie danke ich Dir.
15. März 1943, Botafogo Strand 290 Ap. 64
Mitte Januar zogen wir in diese wunderschöne Wohnung. Als ich vor drei Jahren die Wohnung in der St Clara einrichtete, waren die Nachrichten vom Kriegsschauplatz die furchtbarsten. Nichts als Siege der Nazis. Beim Einrichten dieser Wohnung hat sich das Blättchen gedreht und es sind täglich Nachrichten da, die einen auf einen Zusammenbruch der Naziherrschaft hoffen lassen. Leider fühle ich, dass mir mit der Zeit die deutsche Sprache entgleitet, ohne dass ich die brasilianische Sprache beherrsche. Sem patria (ohne Heimat) lieber Gott, wenn es nicht Dein ewiges Vaterland ist. Ja, die Wohnung ist schön, wie ein Traum. An dem Botafogo- Strand gelegen blicken die Fenster dieses freistehenden Gebäudes nach allen Richtungen. Ein weites Tal mit grünen Gärten wird von bewaldeten Bergketten umrahmt und Christus Redentor auf der Spitze des Corcovados blickt in alle Zimmer. Fast sechs Jahre sind es her, dass ich Deutschland zum letzten Mal sah!
6. Juni 1944
Heute erwachte ich um 6 1 Uhr, da höre ich unser Radio die Musik von „Allons enfants de la patrie“ spielen und Mario kommt in unser Schlafzimmer mit der Nachricht, dass die Invasion Frankreichs, die lang ersehnte zweite Front begonnen hätte. Vor vier Jahren am 14 Juni fielen Paris und Frankreich und heute beginnt der neue Kampf und wir glauben und hoffen, der Sieg und der Frieden. Ich ging heute früh zur Messe, um für den Erfolg der Invasion zu beten. Lieber Gott, hilf unseren Alliierten, stürze Hitler und sein böses Reich und gib uns Frieden.
Rio, den 21. Oktober 1945
Fast sind es zwei Jahre, dass ich nichts geschrieben; es liegt wohl an mangelnder Ruhe, denn zu sagen gäbe es Endloses. Anfang Mai ‘45 kamen Sieg und Friede, kurz darauf ergab sich Japan. Schade, dass ich nicht mehr geschrieben habe, aber ich bin wie auch jetzt fast immer zu müde. Endlos ist die Gnade, mit der Du uns überschüttest, lieber Gott, und ich muss mich schämen, wenn ich mutlos bin.