„Wisst Ihr, was eine verlorene Heimat ist?“

Helene Kamnitzer

Rechts Helenes Mutter Lilly Benjamin, geborene Haas, daneben von rechts nach links Helene, Wolfgang und die jüngste Marie Therese. Die Frau links ist Tante Meta, eine Haushälterin

Mariangela Kamnitzer Bracco aus São Paulo in Brasilien hat ihre Großmutter Helene Lili nie persönlich kennengelernt. Doch nach dem Tod ihres Vaters traute sie sich, das Tagebuch zu lesen, das ihre Großmutter hinterlassen hatte. In „aktuell“ gibt sie einen Einblick in dieses bewegende historische Dokument und erzählt, was es für sie bedeutet.

Leider habe ich meine Großmutter Helene Lili Benning Kamnitzer nicht persönlich kennengelernt, denn sie starb zwölf Jahre vor meiner Geburt. Dennoch habe ich das Gefühl, dass sie in meinem Leben immer präsent war und spüre eine geistige Verbindung mit ihr.

Vor Kurzem habe ich das Tagebuch gelesen, das Helene hinterlassen hat. Sie schrieb es zwischen 1938 und 1945 zunächst in São Luís do Maranhão, einer Stadt im Nordosten Brasiliens, dann in Rio de Janeiro. Helene war jüdischer Abstammung, und ihre Familie befand sich zu dieser Zeit in Deutschland.

Ich finde es bewundernswert, wie richtig sie die Nachrichten aus Europa interpretierte. Zugleich ist es berührend und ergreifend, wie sie in dem Tagebuch ihre Gefühle verarbeitete. Schon aus wenigen Auszügen der Texte wird die Kraft ihres Schreibens deutlich.

Erst nach dem Tod ihres Vaters traute sich Mariangela Kamnitzer Bracco, das Tagebuch ihrer Großmutter zu lesen

Erst nach dem Tod ihres Vaters traute sich Mariangela Kamnitzer Bracco, das Tagebuch ihrer Großmutter zu lesen

Aber bevor meine Großmutter selbst zu Wort kommt, möchte ich Ihnen erzählen, warum sich meine Großeltern auf den Weg nach Brasilien gemacht haben: Alles hat mit meinem Großvater angefangen. Hanns Dagobert Kamnitzer aus Allenstein, damals Ostpreußen, kam 1908 nach Brasilien, um im Juweliergeschäft eines Verwandten namens Krause in Rio de Janeiro zu arbeiten. Rio war damals die Hauptstadt Brasiliens.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war er gerade auf Urlaub in Deutschland. Er kämpfte vier Jahre für sein Vaterland und wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Nach dem Ende des Krieges lernte er Helene in Berlin kennen.

Rechts Helenes Mutter Lilly Benjamin, geborene Haas, daneben von rechts nach links Helene, Wolfgang und die jüngste Marie Therese. Die Frau links ist Tante Meta, eine Haushälterin

Rechts Helenes Mutter Lilly Benjamin, geborene Haas, daneben von rechts nach links Helene, Wolfgang und die jüngste Marie Therese. Die Frau links ist Tante Meta, eine Haushälterin

Meine Großmutter Helene Lili wurde 1899 in Berlin geboren. Sie stammte aus einer vornehmen, wohlhabenden Familie: den Benjamins. Aus der Ehe von Conrad Benjamin und Lilly Haas entsprossen drei Kinder: meine Großmutter Helene Lili, Wolfgang und Marie Therese. Die drei Kinder sind in einem kultivierten bürgerlichen Milieu aufgewachsen.

Helene und ihr Ehemann Hanns

Helene und ihr Ehemann Hanns

Nach der Hochzeit 1922 gingen meine Großeltern in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Brasilien. Dort hatte mein Großvater Hanns ja schon eine Arbeitsperspektive. Es war Nachkriegszeit und Hanns, der sich als Soldat so sehr für seine Heimat eingesetzt hatte, übernahm resigniert die brasilianische Staatsangehörigkeit. Sie gingen zunächst nach Rio de Janeiro, blieben aber nicht lange dort. Als das Juweliergeschäft Krause eine Filiale in São Luís do Maranhão am Rand des Amazonasgebietes eröffnete, wurde mein Großvater dessen Leiter. Damals war diese Region das Zentrum des Kautschukanbaus, eines wichtigen Rohstoffs für die weltweit wachsende Automobilindustrie. So floss viel Geld in diese Provinzstadt. In São Luís wurden die Söhne Mario (1923) und Claudio (1926), mein Vater, geboren.

Helene mit ihren Söhnen Mario (rechts) und Claudio (links)

Helene mit ihren Söhnen Mario (rechts) und Claudio (links)

Die Kamnitzers fuhren jedes zweite Jahr nach Deutschland. Von 1930 bis 1933 versuchten sie sogar, wieder in Berlin Fuß zu fassen. Aber als Hitler an die Macht kam, sagte Hanns: „Dieser Mann wird machen, was er in seinem Buch geschrieben hat.” Er kannte Hitlers Propagandaschrift „Mein Kampf“. Also ging er mit seiner Familie nach Brasilien zurück, und zwar wieder
nach São Luís do Maranhão.
1937 fuhr Helene allein nach Deutschland, um sich als Brasilianerin einbürgern lassen, um sicher zu sein, dass sie unbehelligt nach Brasilien zurückkehren konnte. Das tat sie auch nach zwei Monaten. Im darauffolgenden Jahr begann sie, das Tagebuch zu schreiben, aus dem ich Ihnen einige Auszüge vorstellen möchte.

Maranhão, den 6. Juni 1938
Den ganzen Tag hat mich ein inneres Frösteln geschüttelt. Bei 30 Grad. Man geht durch den Tag und die Dinge, aber die andere Welt inwendig bricht bei jedem Schritt durch. Heute sind das so wehe Bilder, und wie sie hereinbrechen in die schmerzhafte Wirklichkeit gibt es einen harten erschreckenden Ton, als ob Eisenhammer auf Metall schlagen. Wer erträgt das lange? Man sieht und spricht andere Menschen an, die alle ihren Beschäftigungen nachgehen. Wisst Ihr, was Verfolgung ist? Wisst Ihr, was Enterbung ist? Wisst Ihr, was eine verlorene Heimat ist? Wisst Ihr was Einsamkeit ist?

Helenes Söhne Mario (vorne) und Claudio (hinten) wurden beide in Brasilien geboren

12. Juni 1938
Mario und Claudio haben ihre Zeugnisse heimgebracht, beide ausgezeichnet, und wir hatten eine rechte Freude damit. Wie sind diese Jungen körperlich und geistig schön gebildet. Möge Gott ihnen eine Heimat und ein wahres Vaterland geben. Wie herrlich muss das sein. Wir wissen nicht, was das ist; unser hartes Schicksal!

26. Juli 1938
Es ist entsetzlich heiß und ich fühle mich nicht wohl. Leider ist mein Versuch, hier mit Kosmetik zu arbeiten, fehlgeschlagen und es fehlt mir nun eine ausfüllende Tätigkeit, denn ich bin meinen Gedanken viel zu viel überlassen und oft finden in mir furchtbarste Kämpfe
statt. Maranhão bleibt Verbannung.

8. September 1938
Ich höre am Radio die Übertragung aus Nürnberg vom 5. Parteitag. Die Wolken ziehen sich immer mehr über Europa zusammen zu einem ungeheuren Unwetter. In Nürnberg aber jubelt ein gottloses Volk in wahnsinniger Eitelkeit und Hochmut dem Leben entgegen, ohne den vor ihm sich auftuenden Abgrund zu sehen. Morgen vor einem Jahr fuhr ich nach Karlsbad und heute ist das Fest der Geburt Marias, der Mutter Gottes, der Jüdin!

3. Februar 1939
Mein Geburtstag. Seit Wochen liegt ein dunkler Schleier über meinem Gemüt. In Olho d’Água (Strand in Sao Luís) am Meer fand ich immer wieder Ruhe und Frieden in der Natur, Ablenkung durch die Bekannten. Hier bin ich eingehüllt in mich selbst und nichts lenkt den leidenden Blick ab. Vater und Mama und Wolfgang machen mir schwere Sorge. Jetzt will der alte Mann auswandern, weil man ihn aus seiner Wohnung herauswirft. 70 Jahre, 35 Jahre preußischer Beamter und Offizier und jetzt wandert er aus mit seiner Frau als Bettler. Er will nach Chile zu den Kindern seiner Frau, dabei ernähren die Beiden sich kaum, wie soll das werden! Es ist alles so grausam und es liegt wie eine Erstarrung des Entsetzens über meiner Seele.

2. Juli 1939
Es gibt keine Ruhe in Europa solange die nationalsozialistischen Dämonen in Deutschland herrschen. Ich las dieser Tage mit Claudio: „Aus dem Leben eines Taugenichts”, von Eichendorff. Welche Perle der deutschen Literatur, wo ist dieses Deutschland hin, ein Deutschland mit frommem, kindlichen Geist, ein Deutschland der Güte und Schönheit? Hat es dies je gegeben, oder war es nur in der Brust des sehnsüchtigen Dichters?

2. September 1939
Gestern früh hat der Krieg begonnen mit einem Bombardement der Deutschen in Polen, in den nächsten Tagen werden Frankreich und England eintreten. Alles ist wie ein wahnsinniger Traum. Hitler hat eine seiner hysterischen Reden gehalten im Reichstag. Mit dem Reichstagsbrand hat es angefangen. Mit dem Weltbrand wird es aufhören. Wer in Deutschland ausländische Radiostationen aushört oder weitergibt, wird mit dem Tod bestraft. Lieber Gott, stürze diesen Teufel, den fleischgewordenen Satan: Hitler.

Rio de Janeiro, den 9. Juni 1940, St Clara 148 Haus 21
Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden denen, die guten Willens sind. In Europa tobt der Krieg, täglich fallen ihm Tausende zum Opfer und wir haben hier dies friedliche schöne Eckchen, diese hübsche, heitere Wohnung. Wie danke ich Dir Vater im Himmel, der Du uns so wunderbar führst, wie danke ich Dir.

15. März 1943, Botafogo Strand 290 Ap. 64
Mitte Januar zogen wir in diese wunderschöne Wohnung. Als ich vor drei Jahren die Wohnung in der St Clara einrichtete, waren die Nachrichten vom Kriegsschauplatz die furchtbarsten. Nichts als Siege der Nazis. Beim Einrichten dieser Wohnung hat sich das Blättchen gedreht und es sind täglich Nachrichten da, die einen auf einen Zusammenbruch der Naziherrschaft hoffen lassen. Leider fühle ich, dass mir mit der Zeit die deutsche Sprache entgleitet, ohne dass ich die brasilianische Sprache beherrsche. Sem patria (ohne Heimat) lieber Gott, wenn es nicht Dein ewiges Vaterland ist. Ja, die Wohnung ist schön, wie ein Traum. An dem Botafogo- Strand gelegen blicken die Fenster dieses freistehenden Gebäudes nach allen Richtungen. Ein weites Tal mit grünen Gärten wird von bewaldeten Bergketten umrahmt und Christus Redentor auf der Spitze des Corcovados blickt in alle Zimmer. Fast sechs Jahre sind es her, dass ich Deutschland zum letzten Mal sah!

6. Juni 1944
Heute erwachte ich um 6 1 Uhr, da höre ich unser Radio die Musik von „Allons enfants de la patrie“ spielen und Mario kommt in unser Schlafzimmer mit der Nachricht, dass die Invasion Frankreichs, die lang ersehnte zweite Front begonnen hätte. Vor vier Jahren am 14 Juni fielen Paris und Frankreich und heute beginnt der neue Kampf und wir glauben und hoffen, der Sieg und der Frieden. Ich ging heute früh zur Messe, um für den Erfolg der Invasion zu beten. Lieber Gott, hilf unseren Alliierten, stürze Hitler und sein böses Reich und gib uns Frieden.

Rio, den 21. Oktober 1945
Fast sind es zwei Jahre, dass ich nichts geschrieben; es liegt wohl an mangelnder Ruhe, denn zu sagen gäbe es Endloses. Anfang Mai ‘45 kamen Sieg und Friede, kurz darauf ergab sich Japan. Schade, dass ich nicht mehr geschrieben habe, aber ich bin wie auch jetzt fast immer zu müde. Endlos ist die Gnade, mit der Du uns überschüttest, lieber Gott, und ich muss mich schämen, wenn ich mutlos bin.

Der Umzug nach Rio de Janeiro 1940 machte Helene große Freude. Nicht nur wegen der Schönheit der geographischen Lage zwischen Meer und Gebirgen, sondern auch, weil es dort eine urbane Energie und eine lebhafte Kultur gab, die ihre Seele erwärmten. Kulturelle Veranstaltungen waren in der Provinzstadt São Luís selten. Dennoch beendete Helene ihr Tagebuch wie ein Soldat, der aus der Feldschlacht kommt: schwach und erschöpft.

Ich denke, dass der Verlust vieler ihrer Verwandter und die Sehnsucht nach ihrer Heimat die Gründe dafür gewesen waren. Die Sorge um ihre Liebsten war das zentrale Thema ihres Tagebuches.

Helene hat es nach vielen Mühen mit den Einwanderungsbehörden geschafft, Anfang 1939 ihre Schwester Marie Therese und ihren Schwager nach Brasilien zu bringen. Ihrem Bruder Wolfgang konnte sie leider nicht helfen – er wurde in Auschwitz ermordet. Aber darüber hat sie nicht in ihrem Tagebuch geschrieben. Ich nehme an, dass sie diese traurige Nachricht erst später erfahren hat. Ihr Vater Conrad starb an einer Pneumonie bevor er die Flucht nach Chile unternehmen konnte. Seine zweite Frau Elise nahm sich das Leben. Ihr geliebter Onkel, Professor Erich Benjamin, der eine Assistenz-Professur an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, Maryland, erhielt, starb im Exil.

Auch nach dem Ende des Krieges hat Helene nie ihren inneren Frieden gefunden. Auch sie nahm sich 1953 das Leben. Dennoch ist es ihr und ihrem Mann Hanns gelungen, „ihre Jungen“ gut zu erziehen und ihnen ein gutes Leben außerhalb Deutschlands zu ermöglichen. Mein Onkel Mario wurde Arzt und mein Vater Claudio Ingenieur. Beide haben geheiratet, und die Nachkömmlinge meiner Großeltern leben vollkommen integriert in Brasilien. Der Wunsch von Helene hat sich erfüllt: „Lieber Gott, gib unseren lieben Buben die Heimat und den Frieden, den wir nicht hatten!”

Mariangela Kamnitzer Bracco (rechts) mit ihrer Cousine Sandra Kamnitzer Braz (links) vor einem Gemälde, das die gemeinsame Großmutter Helene als junges Mädchen zeigt

Mariangela Kamnitzer Bracco (rechts) mit ihrer Cousine Sandra Kamnitzer Braz (links) vor einem Gemälde, das die gemeinsame Großmutter Helene als junges Mädchen zeigt