Wider das Vergessen

Die während der nationalsozialistischen Herrschaft etablierte „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ blieb lange in den Giftschränken deutscher Bibliotheken verborgen. Warum eigentlich? … fragte sich der Berliner Dr. Wolfgang Both und engagierte sich für die Veröffentlichung im Internet.

Beispiele verbannter Bücher

Beispiele verbannter Bücher

Herr Dr. Both, wie kamen Sie auf die Idee, in Ihrer Freizeit die Liste der in der NS-Zeit verbannten Bücher zu veröffentlichen?
Weil ich mich geärgert habe. Das war so: Ich interessiere mich schon seit meiner Studienzeit für Science-Fiction und Utopie. Vor 15, 16 Jahren habe ich mich ausführlich mit linken Utopien beschäftigt und darüber ein Buch geschrieben. Im Zuge meiner Recherchen bin ich darauf gestoßen, dass es unter den Nationalsozialisten eine Literatur-Verbotsliste gab. Da ich wissen wollte, welche der sozialistischen Utopien verboten waren, habe ich nach dieser Liste gesucht. Aber … ich fand sie nicht. Sie war nirgendwo veröffentlicht. Was ich hingegen fand, war die Liste der Nazi-Literatur, die die Alliierten nach dem Krieg im Rahmen der Entnazifizierung verboten hatten. Die ist wunderbar aufgelistet und im Internet vollständig vorhanden. Das hat mich aufgeregt. Ich habe mir gesagt: „Wenn diese blöde Naziliteratur so leicht im Netz zu finden ist, dann muss doch viel eher die gute Literatur, die von den Nazis verboten wurde, im Netz verfügbar sein.“

Eine Seite aus der gedruckten Liste von 1939

Eine Seite aus der gedruckten Liste von 1939

Was genau war das für eine Verbotsliste?
Schon zu Anfang der NS-Zeit, im Frühjahr 1933, begann der Berliner Bibliothekar Dr. Wolfgang Herrmann, eine „Schwarze Liste“ über die Schriften anzulegen, die in den Volksbüchereien und Leihbuchhandlungen für die Ausleihe gesperrt und nach und nach ausgesondert werden sollten. Im November 1933 wurde dann die Reichsschrifttumskammer (RSK) gegründet, um gezielt Autoren, Verlage und Buchhandel gleichzuschalten. Die „Schwarze Liste“ wurde ständig ergänzt und fortgeschrieben. 1935 erhielt die RSK den Auftrag, eine „Liste solcher Bücher und Schriften [zu führen], die das nationalsozialistische Kulturwollen gefährden.“ Diese war aber lücken- und fehlerhaft, so dass das Propagandaministerium schließlich selbst die Erstellung einer „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ übernahm, mit Zuarbeiten von der Deutschen Bücherei Leipzig. Mitte 1939 lag schließlich eine gedruckte Fassung vor, die unter strengster Geheimhaltung an Bibliotheken ausgeliefert wurde. Auch diese Liste wurde kontinuierlich weiter ergänzt. Bis in den Dezember 1944 haben die Bibliothekare in Leipzig fleißig gesessen und monatliche Aussonderungslisten zusammengestellt. Nach der Annexion Österreichs sowie nach dem Überfall auf Polen sind außerdem jeweils Sonderlisten entstanden.

Welche Werke wurden verboten?
Es gab drei Wege, auf denen ein Buch auf die Liste geraten konnte: Der erste war über den NS-Sicherheitsdienst selbst. Als Frankreich, Belgien, die Niederlande überfallen wurden und man dort die Exildruckereien ausgenommen hat, ging alles, was man dort fand, über den Sicherheitsdienst direkt in diese Liste ein. Der zweite Weg waren Denunziationen durch ganz normale Bürger. Im Bundesarchiv kann man solche Briefe noch finden, in denen der Reichsschrifttumskammer vom Parteigenossen Sowieso empfohlen wird, doch dieses oder jenes Werk auf den Index zu setzen. Und der dritte Weg, das war die Arbeit der Bibliothekare in Leipzig, die in die Bücher hineingeguckt und den Inhalt geprüft haben.
Festgeschriebene Kriterien gab es nicht. Man hat geguckt: Entspricht ein Werk unseren Interessen oder geht es gegen die Nazi-Ideologie? Jüdische Autoren, Sozialdemokraten oder Kommunisten sind natürlich umgehend auf der Liste gelandet. Wobei sogar gezielt einzelne Werke ausgenommen worden sind, die im Interesse der Nazis waren.

Wie viele Werke waren betroffen?
Die genaue Zahl ist noch nicht bekannt. Die gedruckte Liste von 1938 bis 1941 enthielt bibliografische Einträge zu mehr als 5.800 Büchern, darunter die Namen von 954 Autoren, deren Gesamtwerk verboten wurde. Darüber hinaus wurde die Gesamtedition zahlreicher Verlage wie Malik, Universum, Dietz oder Vorwärts auf den Index gesetzt. Das ist noch gar nicht aufgeschlüsselt. In den folgenden Jahren wurde die Liste weiter ergänzt. Ich vermute, dass um die 12.000 Werke betroffen waren.

Was geschah nach dem Krieg mit den verbotenen Schriften?
Die großen Autoren, Thomas Mann, die Marxisten, die Leninisten etc., wurden natürlich wieder publiziert. Aber vieles ist damals verdrängt worden und bis heute vergessen. Das finde ich so erschütternd, diese nachhaltige Wirkung! Ich will nicht sagen, dass das heute alles noch lesenswert ist, aber darum geht es auch nicht. Es geht darum, dass die Nazis diese Werke in die ewige Vergessenheit verbannen wollten – und damit sollen sie nicht durchkommen.

Was geschah denn mit den Verbotslisten?
Die sind in Deutschland nie nachgedruckt worden und weder in West- noch in Ostdeutschland wurde darüber geforscht. In etwa 20 Bibliotheken stehen noch Originallisten. Das ganze Thema ist fast unaufgearbeitet. Es gibt nur einen Nachdruck der Liste aus Liechtenstein. Den habe ich mir besorgt und digitalisiert. Es entstand die Idee, die Liste als Datenbank auf der Internetseite www.berlin.de zu veröffentlichen, denn das Thema ist auch Berlin-Geschichte. Im Mai 2008, 75 Jahre nach der Bücherverbrennung, ging die erste Version der Datenbank online. Für diese Unterstützung bin ich sehr dankbar.

Was wünschen Sie sich für das Projekt?
Mein Ziel ist es, die komplette Liste öffentlich verfügbar zu machen. Deshalb arbeite ich vor allem von der technischen Seite daran, die Datenbank zu vervollständigen. So ist das Merkmal „sämtliche Schriften“ noch nicht aufgelöst. Und die Jahre bis 1944 sind noch nicht erfasst. Es würde mich sehr freuen, wenn Menschen aus anderen Fachdisziplinen, Literaturwissenschaftler, Historiker oder auch Schüler und Studenten das Thema aufgreifen und mit der Liste arbeiten würden. Da steckt unheimlich viel Stoff drin.
Ich finde es wichtig, die Geschichte hinter der Liste, auch die Maschinerie offenzulegen, damit wir uns besser daran erinnern können. Und vielleicht gelingt es, einige Autoren dem Vergessen zu entreißen. Einzelne Werke sind in den letzten Jahren neu aufgelegt worden. Es wäre natürlich toll, wenn die Liste für Verlage ein Anstoß wäre, bestimmte Werke wieder herauszubringen.

Die Datenbank finden Sie unter:
https://www.berlin.de/berlin-im-ueberblick/geschichte/berlin-im-nationalsozialismus/verbannte-buecher/