ein Leserbeitrag von Benjamin Kuntz
Von Berlin nach Los Angeles – dank eines alten Leserbeitrags aus aktuell
Bild: privat
Im vergangenen Oktober packte ich meinen Koffer, um zum ersten Mal in meinem Leben in die USA zu reisen. Vom Berliner Flughafen Schönefeld aus ging es nach Los Angeles. Dort wartete bereits eine ganze Familie auf mich, die ich zuvor noch nie persönlich getroffen hatte. Unser Kennenlernen hatte sich in den zurückliegenden Monaten komplett auf elektronischem Wege abgespielt – per E-Mail, Facebook und WhatsApp. Aber wie hatten wir uns überhaupt gefunden und was war der Anlass für meine Reise um die halbe Welt?
Um das zu erklären, sollte ich mich zunächst einmal vorstellen. Ich heiße Benjamin Kuntz, bin 34 Jahre alt, seit 2010 in Berlin wohnhaft und seit nunmehr acht Jahren am Robert Koch-Institut tätig. Als Gesundheitswissenschaftler arbeite ich im Fachgebiet „Soziale Determinanten der Gesundheit“. Dort erforschen wir die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen von Gesundheit und Krankheit. Ich beschäftige mich zum Beispiel insbesondere mit der Bedeutung sozialer Einflussfaktoren wie Armut auf die gesundheitliche Lage von Kindern und Jugendlichen. Zu den „Klassikern“ der wissenschaftlichen Literatur auf dem Gebiet der Sozialepidemiologie zählt der 1913 erschienene Sammelband „Krankheit und soziale Lage“. In dem von den Berliner Ärzten Max Mosse und Gustav Tugendreich herausgegebenen Buch ist auf eindrucksvolle Weise das bereits damals vorhandene Wissen über den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit zusammengefasst.
Da ich mich immer schon sehr für medizinhistorische Themen interessiert habe, begann ich im Dezember 2017, erste Nachforschungen über das Leben und Wirken von Gustav Tugendreich anzustellen, von dem ich anfangs nur wusste, dass er als jüdischer Kinderarzt in Berlin gelebt und gearbeitet hatte und kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs mit seiner Familie in die USA emigriert und dort gestorben war. Eine Internetrecherche brachte mich bei meiner Suche nach mehr Informationen zunächst nicht weiter, bis ich eines Abends – heureka! – auf einen Artikel aus der Dezemberausgabe 2006 der aktuell stieß. Darin schrieb in einem Leserbeitrag ein gewisser Tom Tugend unter der Überschrift „Remembering my Father“ über seine Kindheit im Berlin der 1930er-Jahre und auch über seinen Vater Gustav Tugendreich.
Schnell wurde mir klar, dass es sich bei Tom Tugend um Thomas Tugendreich, den Sohn von Gustav Tugendreich, handeln musste. Aber aufgrund der inzwischen vergangenen elf Jahre nach Erscheinen des Beitrags und der Tatsache, dass sein Vater bereits vor 70 Jahren im Alter von 71 Jahren gestorben war, machte ich mir wenig Hoffnungen, dass Tom tatsächlich noch leben könnte. Aber weit gefehlt! Bei einer Internetsuche stieß ich auf Berichte über einen in Los Angeles lebenden Tom Tugend, bei dem es sich offensichtlich um einen inzwischen zwar hochbetagten, jedoch nach wie vor aktiven Journalisten handelte, der vor allem zu jüdischen Themen schreibt und Filmkritiken verfasst. Schnell fand ich ein passendes Facebook-Profil sowie eine E-Mail-Adresse und auf meine erste Mail hin erhielt ich bereits am nächsten Tag eine ausführliche Antwort. Es handelte sich bei Tom tatsächlich um den Sohn von Gustav Tugendreich, der mir zum Schluss seiner Mail lapidar mitteilte „P.S.: Du wirst bemerkt haben, dass ich meinen Nachnamen gekürzt habe. Amerikaner können Tugend kaum aussprechen, aber Tugendreich wäre unmöglich“. In den darauffolgenden Wochen und Monaten tauschten Tom und ich uns intensiv per E-Mail aus. Irgendwann hatte ich auch Kontakt zu Orlee, Alina und Ronit, den drei Töchtern von Tom, die ihren 1948 verstorbenen Großvater nie kennengelernt hatten. Relativ bald fasste ich den Entschluss, eine kleine Biografie über Gustav Tugendreich zu schreiben, um ihn so auch dem allgemeinen Vergessen in der Fachwelt zu entreißen. Das entstandene Büchlein wird nun tatsächlich in den nächsten Wochen als Band Nr. 241 der Reihe „Jüdische Miniaturen“ bei Hentrich & Hentrich, einem Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte, erscheinen.
Mitte Oktober lernte ich dann in Los Angeles Tom, seine Frau Rachel, seine drei Töchter und weitere Familienmitglieder kennen. Ich wurde überaus gastfreundlich empfangen, übernachtete die meiste Zeit bei Toms ältester Tochter Orlee und durfte in langen und intensiven Gesprächen mit dem inzwischen 93-jährigen Tom mehr über seine Kindheit in Berlin und das Schicksal seines Vaters erfahren. Für mein Buch wurden mir nicht nur wertvolle Informationen, sondern auch Bilder und andere Dokumente zur Verfügung gestellt. Ich feierte mit der Familie freitagabends Shabbat, ging mit Tom ins Kino und ins Schwimmbad, und besuchte das Grab seines Vaters, das sich auf dem berühmten „Hollywood Forever Cemetery“ befindet. Die Reise wird mir mit Sicherheit mein ganzes Leben in bester Erinnerung bleiben. Und hierzu hat ein alter, aber zum Glück online archivierter Leserbeitrag aus aktuell entscheidend beigetragen.
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Redaktion Zeitschrift aktuell
Susanne Zöchling