„99 Luftballons“

Ein Spaziergang durch hundert Jahre Musikstadt Berlin

von Wolf Kampmann

Berlin ist immer genau das, was es kurz zuvor noch nicht gewesen ist. Das trifft auf alle Bereiche des Lebens wie der Kunst und nicht zuletzt auch auf die Berliner Musik der letzten einhundert Jahre zu.

Claire Waldoff

Claire Waldoff

Berliner Luft

Vor 1918 waren es Militärmärsche, Salonkonzerte und die Moritaten des Leierkastenmanns, die den Klangalltag der Reichshauptstadt dominierten.
Erst nach dem Fall des Kaiserreichs entfaltete sich an der Spree eine urbane Musikkultur, mit der Berlin binnen weniger Jahre Wien und Paris den Rang als Musikhauptstadt Europas ablaufen konnte.

Diese Entwicklung verlief am Anfang nicht ohne Hindernisse. Unter den Bedingungen der Hyperinflation wollte kaum ein Musiker von jenseits der deutschen Grenzen in Berlin gastieren. Jazz kannte man nur vom Hörensagen. Man nannte diese Musik, von der Heimkehrer aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft erzählten, Excentric. Die Excentric-Bands schossen wie Pilze aus dem Boden der Etablissements ums Oranienburger Tor. Sie demolierten ihre Instrumente und zelebrierten einfach Krach – nach der Lethargie von Monarchie und Weltkrieg ein musikalischer Befreiungsschlag. Die besondere Attraktion dieser Anarcho-Kapellen war das „Jazz Band“, wie man das damals in
Deutschland noch völlig unbekannte Schlagzeug bezeichnete.

Paul Linckes flottes Operetten-Lied „Berliner Luft“ – bereits 1904 geschrieben, während der Kaiserzeit aber kaum aufgeführt – blies ab 1922 den aristokratischen Mief der Seifenopern Wiener Bauart aus den Kiezen. Claire Waldoffs Couplets kommentierten gewitzt den politischen Alltag, der Charleston eines Julian Fuhs und die Jazz-Schmachter des Stehgeigers Efim Schachmeister machten aus ganz Berlin einen riesigen Dancefloor. Die frechen Gassenhauer der Comedian
Harmonists beförderten die Berliner Klangluft endgültig zum Exportschlager. Untermalt wurde all dies von den Pfeifen der Fabriken, dem Lärm der Baustellen, dem Rumpeln der Straßenbahn und dem Gebrüll der Zeitungsjungen. Industrialisierung und Unterhaltungskultur gingen im Berlin der Goldenen Zwanziger eine untrennbare Symbiose ein.

1933 senkte sich dann ein Vorhang über Berlin. Musiziert wurde zwar bis 1945, wenn auch meist im Dienste der Propaganda, aber Zarah Leanders Wunder geschah nicht. Am Ende sangen nur noch die Sirenen und trommelten die Bombeneinschläge.

Der Neuanfang

Nach dem Krieg und den Leiden der Nachkriegszeit trug Musik nicht unerheblich zur Normalisierung des Lebens bei. Die Berliner wollten Ablenkung und bekamen sie in unverfänglichen Liedern über Banalitäten. Bully Buhlan deutschte schon
1947 die Swing-Hits von Glenn Miller ein und hatte 1951 noch einen Koffer in Berlin, im selben Jahr packte die achtjährige Cornelia Froboess die
Badehose ein und fuhr hinaus zum Wannsee. Man sang nicht nur wieder in Berlin, man sang auch wieder über Berlin.

Iggy Pop

Iggy Pop

Um 1968 etablierte sich in Deutschland-West mit Unterstützung der BBC der Krautrock, eine genuin deutsche Popmusik, die sich von amerikanischen Vorgaben befreite und eher auf den Einfluss Karlheinz Stockhausens setzte. Die Westberliner Spielart des Krautrock war elektronischer und meditativer als im Rest des Landes. Bands wie Tangerine Dream, Agitation Free oder Ashra Tempel sowie die Solokünstler Manuel Götsching und Klaus Schulze wurden weltweit als Vorreiter der elektronischen Musik gefeiert. Es sollte nicht der letzte Impuls bleiben, den Berlin der Elektromusik gab.

Doch zunächst einmal lockten die spezielle Inselsituation und das damit verbundene Gefühl von kreativer Unabhängigkeit Musiker aus der ganzen Welt in den Westen der geteilten Stadt. Iggy Pop und David Bowie sind nur zwei Beispiele
von Musikern, die in Berlin nicht nur vorübergehend ein Zuhause fanden, sondern deren Lieder auch stark von der Stadt geprägt wurden. Bowies Mauer-Hymne „Heroes“ schuf 1977 Identifikation auf beiden Seiten der Grenze.

Bowie, Pop und Co. standen sinnbildlich auch für ein weiteres Phänomen. Schon damals wurde Berlin oft mit New York verglichen. Während New York als Big Apple galt, auf dem sich alle Maden dauerhaft durchfressen konnten, sollte Berlin
ein großer Durchlauferhitzer bleiben, in dem man sich aufwärmte, um über kurz oder lang weiterzuziehen. Die Fluktuation und damit verbundene permanente Erneuerung taten der Stadt gut.

Nina Hagen

Nina Hagen

Die späten Siebziger Jahre standen ganz im Zeichen des Punk und der darauf folgenden Neuen Deutschen Welle. Ton Steine Scherben hatten die Szene vorgeheizt, Bands wie Bel Ami, Ideal, die Nina Hagen Band oder Spliff fanden neue, schnodderige Songs mit deutschen Texten für die Mauerstadt, im Osten besang die Gruppe City den King vom Prenzlauer Berg. Noch wurden die Menschen durch ein unüberwindbares Band aus Beton voneinander getrennt, doch die Lieder beider Stadthälften begannen sich bereits anzunähern. Nenas 99 Luftballons schwebten schließlich 1983 in den Himmel über ganz Berlin.

Love Parade 2001

Love Parade 2001

Die Mauer ist weg

Am 9. November 1989 war die Mauer plötzlich offen, einfach so. Vor allem im Osten wurden leerstehende Immobilien besetzt und Planet, E-Werk, Bunker oder Tresor genannt. Erstmals seit Kriegsende erfasste eine Szene beide Teile der Stadt. Mehr noch, Techno war der Kitt, der die Jugend aus beiden Berliner Stadtteilen vereinte. Dass die erste Love Parade unmittelbar vor dem Mauerfall
ausgerufen wurde, war sicher kein Zufall. Aber dass daraus die größte Techno-Party der Welt hervorgehen sollte, ahnte damals noch niemand. Nachdem Berlin Hauptstadt wurde, gab es Versuche, den rheinischen Karneval an die Spree zu
holen. Gegen die fröhliche Love Parade hatte der närrische Umzug indes keine Chance.

In Berlin dreht sich die Erde schneller um ihre Achse als in vielen anderen Metropolen. Der große Durchlauferhitzer reagiert sensibel auf alle
Zündungen, egal wie weit entfernt. Gentrifizierung auf der einen Seite, Migration auf der anderen. Beides geht an der Musikszene Berlins nicht spurlos vorbei. Party ohne Ende hier, eine wachsende Vielfalt musikalischer Mikrobiotope mit
unterschiedlichem kulturellem Hintergrund dort. Auf der Suche nach dem charakteristischen Berliner Klang kann man sich nur verirren, daran hat
sich von 1918 bis heute nichts verändert. Wie sagte der Berliner Jazzmusiker Gebhard Ullmann doch so treffend? Das Typische an der Berliner Musik
ist, dass es nichts Typisches gibt.