Das Projekt „Berlin Mondiale“ stellt sich vor
von Vanessa Temps, Berlin Mondiale
Bild: Berlin Mondiale, Antje Materna
Deutschland ist ein Land der Migration. Im Zuge von Industrialisierung, Erstem Weltkrieg, kommunistischer Revolution und russischem Bürgerkrieg wanderten Anfang des letzten Jahrhunderts mehrere Millionen Menschen ein, nachdem zuvor im 19. Jahrhundert massenweise Deutsche nach Nord- und Südamerika aufgebrochen waren. Im 2. Weltkrieg gelang Hunderttausenden die Flucht aus Nazi- Deutschland. In mehreren Zuwanderungsphasen immigrierten nach 1945 (Spät-)Aussiedler*innen, Gastarbeiter* innen, Ostdeutsche und Asylsuchende nach Westdeutschland.
Im Hier und Jetzt erreichte die sogenannte Flüchtlingskrise ihren bisherigen Höhepunkt vor knapp zwei Jahren. 890.000 Schutzsuchende kamen laut Bundesinnenminister Thomas de Maizière 2015 nach Deutschland, 2016 waren es bisherigen Berechnungen zufolge ca. 280.000. Die Zuwanderung erforderte schnelle Hilfe bei der Aufnahme geflüchteter Menschen: Sie mussten registriert werden, um den bürokratischen Weg ihres Asylverfahrens beginnen zu können. Es galt, Schlafplätze und Kleidung zu organisieren. Tausende Freiwillige engagierten sich in Berlin und deutschlandweit, um die Menschen willkommen zu heißen und ihnen das erste Ankommen zu erleichtern. Die Berliner Stadtgesellschaft brachte ihre langjährige und vielfältige Erfahrung mit Migration mit ein, ermöglichte Begegnungen und entwickelte Ideen, wie mit kulturellen Mitteln Teilhabe-Chancen geschaffen werden konnten.
Ein Beispiel hierfür ist „Berlin Mondiale“ – ein Netzwerk von Kultureinrichtungen und Unterkünften für geflüchtete Menschen in Berlin, das bereits 2014 vom Rat für die Künste und dem Flüchtlingsrat Berlin in Kooperation mit dem Kulturnetzwerk Neukölln initiiert worden war. Ziel von „Berlin Mondiale“ ist es, künstlerische Programme und Projekte der Kulturellen Bildung in Tandem-Partnerschaften zwischen Kultureinrichtungen und Flüchtlingsunterkünften zu realisieren und somit die Zusammenarbeit mit Menschen zu ermöglichen, die in Deutschland im Exil leben.
Denn: In Deutschland ist keine Gruppe mit weniger Rechten und Partizipationsmöglichkeiten ausgestattet. Während des Asylverfahrens und ohne Schutzstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention haben Geflüchtete nur einen stark eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung, zu Arbeit und zu selbstbestimmtem Wohnen. Die Bildung neuer Gemeinschaften, in denen alle in Berlin lebenden Menschen gleichermaßen am gesellschaftlichen Leben teilhaben, ist die große Aufgabe.
Bild: Berlin Mondiale, Arno Declair
„Berlin Mondiale“ setzt sich dafür ein, den geflüchteten Menschen zumindest Zugänge zu Arbeit und Beschäftigung im Kunst- und Kulturbereich zu ebnen und Gestaltungsräume zu öffnen. Sie richtet sich an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, an Alt- und Neu-Berliner*innen. Jedes Projekt ist unterschiedlich, aber alle basieren auf konzeptionellem Dialog zwischen den Kulturschaffenden, Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen der Unterkünfte. Auf diese Weise entwickeln die Beteiligten ihre Projekte gemeinsam je nach ihren Interessen und Bedürfnissen. Zentrale Elemente der Zusammenarbeit sind daher partizipative Formate wie Ferienwerkstätten, fortlaufende Workshops und Exkursionen in den Sparten Bildende Kunst, Film, Literatur, Museum, Musik, Musiktheater, Tanz und Sprechtheater/Performance. Innerhalb der Projekte und häufig auch in den Kulturinstitutionen engagieren sich Bewohner*innen der Unterkünfte in der künstlerischen Mitarbeit, Übersetzung, Workshop-Leitung oder -Assistenz.
Im Tandem der Deutschen Kinemathek mit dem Boardinghaus Rennbahnstraße etwa arbeiten Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Workshops zu den Genres Trickfilm/ Stop-Motion & Animation zusammen und beschäftigen sich mit dem Filmdreh im Multimedia-Zeitalter – mit Smartphone und Tablet entstehen Kurzfilme unterschiedlicher Themenschwerpunkte. Aufgrund der Zusammenarbeit von Deutscher Oper und mittlerweile mehreren Unterkünften nahmen zum Auftakt der Spielzeit 2016/17 wie schon in den Vorjahren Jugendliche mit Fluchterfahrung am alljährlichen Herbstcamp teil. Außerdem sind junge Geflüchtete an den Inszenierungen „Die Welt in uns“ und „Lesbos – Blackbox Europa“ sowie in den beiden Jugendclubs „Big Sis is Watching You“ und „Making Friends“ beteiligt – auf konzeptioneller Ebene sowie als Darsteller*innen. Darüber hinaus finden Workshops, Theaterbesuche und Führungen statt. Geflüchtete können Praktika in verschiedenen Gewerken des Theaters absolvieren und Mitarbeiter*innen unterschiedlicher Abteilungen begegnen. Kinder aus dem AWO-Refugium Lichtenberg lernen in den Workshops des internationalen literaturfestivals berlin die Welt der Comics kennen und wie sie sich durch Zeichnen ausdrücken können. Kreatives Miteinander, das nebenbei die deutsche Sprache vermittelt. Drei Beispiele, wie für Menschen, die in Sammelunterkünften leben müssen, Kultureinrichtungen zu verlässlichen Ansprechpartnern und lebendigen Orten in der noch fremden Stadt werden.
Bild: Berlin Mondiale, Arno Declair
Seit der Gründung von Berlin Mondiale hat sich die Anzahl der Tandems von sieben im Jahr 2014 auf aktuell 21 enorm gesteigert. Ende 2017 werden es stadtweit 50 aktive Partnerschaften sein. Unter den Kultureinrichtungen sind sowohl große, staatlich subventionierte Institutionen vertreten, wie zum Beispiel das Deutsche Theater, die Deutsche Oper, die KUNSTWERKE Berlin und das Haus der Kulturen der Welt, als auch Produktionsstätten der freien Szene wie die Uferstudios, das Theater Strahl, Young Arts Neukölln oder Sasha Waltz & Guests mit dem Radialsystem.
Bei den Unterkünften für geflüchtete Menschen handelt es sich überwiegend um Gemeinschaftsunterkünfte von verschiedener Größe. Einige beherbergen überschaubare 75 Personen, in anderen müssen bis zu 1.000 Menschen ihren Platz finden. Großunterkünfte sind eher die Regel, als die Ausnahme. Weitere entstehen derzeit durch den Neubau von Tempohomes, Containerstandorten und modularen Unterkünften für Flüchtlinge, in denen mehrere Tausend Schutzsuchende vor allem in den Berliner Randbezirken leben sollen.
Für Berlin Mondiale bedeutet das unter anderem, insbesondere die inklusive Projektarbeit innerhalb der Tandems weiterzuentwickeln. In bestehenden und neuen Kooperationsmodellen werden künftig verstärkt Formate umgesetzt, in denen Gleichaltrige unterschiedlicher Herkunft und/oder Status zusammenarbeiten. Auf diese Weise finden nicht „bloß“ Austausch und Begegnung in der künstlerischen Arbeit statt, sondern es wird zudem die Teilhabe mehrerer Bevölkerungsgruppen an den Programmen gewährleistet: migrantische Communities, Kiezbewohner*innen, Besucher* innen von Jugend-, Stadtteil- oder Gemeindezentren.
Eine Willkommenskultur mit Leben zu füllen, verlangt wesentlich mehr als nur den beinahe reflexartigen Gebrauch von Begrüßungsfloskeln – Ausdauer, Beharrungsvermögen, Qualität und ein belastbares Netzwerk sind notwendig. Ansprüche, denen sich Berlin Mondiale auch weiterhin gern stellen wird.
Der Regierende Bürgermeister von Berlin
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Redaktion Zeitschrift aktuell
Susanne Zöchling