„Wie hat eigentlich meine Hertha gespielt? Und was gibt es sonst so Neues in Berlin?“
Noch mehr als 40 Jahre nach seiner Flucht aus Berlin erkundigte sich US-Finanzminister W. Michael Blumenthal jedes Wochenende bei seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nach dem Ergebnis seines Lieblingsvereins aus der alten Heimat. Damals, es waren die späten Siebzigerjahre, nahm der Stab des Politikers im Treasury Building in Washington D.C. die wöchentliche Frage erstaunt und immer auch etwas gerührt zur Kenntnis – und gab seinem Vorgesetzten wie gewünscht Auskunft.
Zur Erinnerung: Der 1926 in Oranienburg geborene und in Berlin aufgewachsene Politiker war sieben Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Lange Zeit hofften seine Eltern wie so viele andere Jüdinnen und Juden auch, dass die politische Situation sich noch verbessern würde – oder dass es nicht ganz so schlimm werden würde, wie viele befürchteten. Schließlich hatte Blumenthals Vater im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz erhalten. Doch nachdem ab 1936 der Druck auf Jüdinnen und Juden immer größer wurde, begannen seine Eltern, ernsthaft über Auswanderung nachzudenken. Als die Nationalsozialisten am 9. November 1938 marodierend durch Berlin zogen, Synagogen anzündeten und Hunderte Jüdinnen und Juden ermordeten und in den Tagen danach mehr als 30.000 Menschen in Konzentrationslager deportierten, entschied sich Blumenthals Vater Ewald endgültig zur Flucht.
Kurz darauf jedoch wurde auch Ewald ins KZ Buchenwald verschleppt. Es grenzt an ein Wunder, dass Blumenthal senior die Tortur – nach Aussage seines Sohnes war er traumatisiert, hatte überall am Körper Schürfwunden und inzwischen ein Drittel seines Körpergewichts verloren – überlebte und freigelassen wurde. Wenig später, im Frühjahr 1939, gelang es der Familie, nach China zu fliehen, wo sie im Shanghaier Ghetto die NS-Zeit überlebte. Nach dem Krieg wanderte W. Michael Blumenthal nach Amerika aus. Der Rest ist Geschichte: Er machte in der Politik Karriere, beriet John F. Kennedy und wurde unter US-Präsident Jimmy Carter ab 1977 Finanzminister.
Warum also war es W. Michael Blumenthal damals so wichtig, das Ergebnis von Hertha BSC zu erfahren? Nach allem, was Deutschland seiner Familie und anderen Jüdinnen und Juden angetan hatte? Auf diese Frage hat er vor mehreren Jahren in einem Interview selbst die Antwort gegeben: „Amerika ist meine Heimat, aber Deutschland ist meine zweite Heimat, besonders Berlin.“ Nach einer längeren Pause fügte er hinzu: „Ich bin, so lange ich noch erzogen wurde, als Deutscher erzogen worden. ‚You’re like a Prussian!‘, sagen meine Kinder und meine Frau oft zu mir. Ein gewisser Teil von mir ist einfach deutsch geblieben.“
Was für W. Michael Blumenthal gilt, trifft vermutlich auch auf nicht wenige Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift zu, die mit dieser Ausgabe ihr 100. Jubiläum feiert. Die meisten aktuell-Leserinnen und -Leser leben schon lange nicht mehr in Berlin, geschweige denn in Deutschland. Ihre Heimat ist seit nunmehr Jahrzehnten Amerika, Israel, Großbritannien oder Australien. Aber mit ihrem Herzen und mit ihren Gedanken sind sie nach wie vor der alten Heimat verhaftet – der eine mehr, die andere weniger, aber die meisten doch mehr als nur sporadisch. Nazi-Deutschland trachtete ihnen nach dem Leben. Ihr Verhältnis zur Geburtsstadt wird niemals wieder so werden, wie es einmal war. Interessiert an Berlin indes, an der weiteren Aufarbeitung des Nationalsozialismus, der politischen Entwicklung der Bundesrepublik und vor allem an den Neuigkeiten aus der Jüdischen Gemeinschaft der Hauptstadt sind nach wie vor viele.
bq. Amerika ist meine Heimat, aber Deutschland ist meine zweite Heimat, besonders Berlin.
Es sind Biografen wie die von W. Michael Blumenthal und zahlreichen anderen jüdischen Migrantinnen und Migranten aus Berlin, weshalb es die aktuell gibt – und die das Medium so wichtig machen. Die Zeitschrift bietet den ehemaligen Berlinerinnen und Berlinern, die während der NS-Zeit verfolgt und vertrieben wurden, die Möglichkeit, über das Geschehen in ihrer ehemaligen Heimatstadt einen Überblick zu bekommen. Nachrichten aus und über Deutschland gibt es zwar auch im Ausland zu lesen. Erst recht, seitdem es das Internet gibt. Doch Geschichten wie etwa die vom Jüdischen Krankenhaus in Berlin-Wedding, das nach über 80 Jahren wieder eine eigene Synagoge erhält – um nur eine von vielen Reportagen zu erwähnen –, sind eben nur durch die Arbeit einer professionell arbeitenden Redaktion erhältlich, die nah dran ist am jüdischen Leben in Berlin.
Und nicht minder wichtig: Die aktuell ist auch eine Art Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft; sie ist ein Forum, in dem Leserinnen und Leser selbst Beiträge verfassen können und in dem verloren gegangene Kontakte wiederhergestellt werden können. „What a Magazine!“, schreibt zum Beispiel aktuell-Leserin Roni Berenson aus den USA in einem Leserbrief an die Redaktion im Juli dieses Jahres. Nachdem sie zuvor einen anderen Leserbrief in der aktuell veröffentlicht hatte, erhielt sie zahlreiche Briefe von anderen früheren jüdischen Berlinerinnen und Berlinern, die sich noch an ihre frühere Mitschülerin erinnerten. Was ein einzelner Leserbrief alles in Gang zu setzen vermag!
Nun also feiert die aktuell mit ihrer 100. Ausgabe ein rundes Jubiläum. Als sie 1970 gegründet wurde, haben womöglich nicht allzu viele gedacht, dass es die Zeitschrift so lange geben würde. Eine Zeit in einem Land immerhin, von dem mit gutem Grund damals viele Schoa-Überlebende sagten, dass nie wieder jüdisches Leben im Land der Täterinnen und Täter möglich sein würde. In einem Land, in dem früher die meisten Deutschen am liebsten gar nichts über die NS-Vergangenheit sagen wollten und die anderen sofort betonten – sobald sie erfuhren, dass sie eine ehemalige deutsche Jüdin oder einen ehemaligen deutschen Juden vor sich hatten –, alles sei zwar ganz furchtbar gewesen, aber sie hätten davon nichts geahnt.
Doch die aktuell ist nach wie vor eine vitale Stimme in Deutschland und weit darüber hinaus. Sie wird von den mehr als 7.000 Abonnentinnen und Abonnenten wie auch von vielen Journalistinnen und Journalisten geachtet und geschätzt. Eine kleine Zeitung mit einer großen Wirkung und einer noch größeren Verantwortung.
In diesem Sinne: Masal tow, bis 120 – und weit darüber hinaus!