"Liebe ehemalige Mitbürger …"

Gedanken zu einer ungewöhnlichen Zeitschrift

von Amelie Müller

„Liebe ehemalige Mitbürger“, „liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“, „liebe Berlinerinnen und Berliner in aller Welt“: Die Anrede, mit der die Regierenden Bürgermeister Berlins die Leserschaft der Zeitschrift aktuell ansprachen, änderte sich im Laufe der Jahre immer wieder, bevor man sich schlicht auf „Liebe Leserinnen und Leser“ verständigte. Die Suche nach der richtigen Anrede drückt schon das ungewöhnliche Verhältnis aus, das zwischen Ihnen, den Leserinnen und Lesern der Zeitschrift, und dem Land Berlin besteht.

1925 lebten 172.700 Jüdinnen und Juden in Berlin. 90.000 von ihnen konnten ihr Leben ab 1933 nur durch Emigration retten. Diese Menschen hatte man im Blick, als der West-Berliner Senat 1969 auf Anregung des Chefredakteurs der US-amerikanischen Zeitschrift Aufbau, Hans Steinitz, beschloss, die emigrierten Berlinerinnen und Berliner zu einem einwöchigen Besuch in ihrer Heimatstadt einzuladen. Aufrufe zur Kontaktaufnahme wurden über deutschsprachige Zeitungen und Emigrantenorganisationen im Ausland verbreitet. Sie fanden ein großes Echo: Bereits in den ersten Wochen meldeten sich 14.000 Ex-Berlinerinnen und -Berliner mit dem Wunsch, Berlin wiederzusehen. Ein solcher Ansturm war aus organisatorischen wie finanziellen Gründen nicht mit einem Mal zu bewältigen. Die Senatskanzlei richtete also eine Warteliste ein und rief 1970 die Zeitschrift aktuell ins Leben, um den frisch geknüpften Kontakt zu verstetigen und die Wartezeit zu überbrücken.

Was hatte man sich nach all der Zeit und dem Geschehenen zu sagen? aktuell enthielt zu Beginn ein buntes Potpourri aus mehr oder weniger mitteilenswerten Informationen aus und über Berlin. Die richtige Mischung von gedenkpolitischen Themen, Neuigkeiten aus der jüdischen Gemeinde Berlins, Informationen über die allgemeine Entwicklung der Stadt und Vermischtem musste erst gefunden werden. So mutet es kurios an, wenn in der zweiten Ausgabe neben einem Bericht über die Rettung dänischer Jüdinnen und Juden vor der Vernichtung auch notiert wurde: „Offensichtlich teilt Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Schütz das Bedauern der meisten Männer, daß der Mini-Rock (…) spätestens in der Herbst- und Wintersaison 1970/71 tot sein soll.“

bq. Was hatte man sich nach all der Zeit und dem Geschehenen zu sagen?

Was zunächst einseitig mit Nachrichten der Stadt an ihre früheren Einwohnerinnen und Einwohner begann, wurde schon bald zu einer Plattform für den Austausch innerhalb der Emigranten-Community, die zerstreut in mehr als vierzig Ländern lebt. Ab der zweiten Ausgabe wurden Leserbriefe abgedruckt, bald Erinnerungen an Berlin, Berichte über Fluchtgeschichten und Suchanzeigen veröffentlicht. Auf diese Weise fanden sich lange aus den Augen verlorene Freundinnen und Freunde, Verwandte und Bekannte wieder, wurden Verbindungen zwischen Menschen geknüpft, die Ähnliches erlebt hatten. Das passiert bis heute: 2016 schrieb ein Leser: „Ich habe Ihren Leserbrief in aktuell gelesen. Einer der Namen Ihrer Schulkameraden, G. P., war mein guter Freund. Es hat mich richtig schockiert, diesen Namen, den ich seit 1940 nie mehr gehört habe, vor Augen zu haben. (…) Ich schreibe diese paar Zeilen mit überquellenden Gefühlen. In Kanada und in Israel, tausende Kilometer voneinander entfernt, leben zwei Menschen und erinnern sich an einen kleinen Knirps, der heute in unserem Alter sein sollte … Leider wurde er einer von den sechs Millionen.“ Wie sich dann jedoch herausstellte, ist G. P. noch am Leben und wohnt in Australien – er ist ebenfalls aktuell-Leser.

Die Erwartungen und Bedürfnisse an die Zeitschrift sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sie lesen: „Es tut dem Herzen gut, zu hören, dass nach der Nazizeit (in der ich meine Familie gräulich verloren habe) so vieles wieder so ehrlich dargestellt wird!“, so ein Leser aus England 2010. Ein Leser aus Kanada formulierte 1983 einen anderen Standpunkt: „In den inzwischen vergangenen 40 Jahren habe ich Gott sei Dank viel vergessen. (…) Ich bin überzeugt (…), viele wollen nicht an diese ‚dunkle‘ Zeit erinnert werden. Warum auch? (…) Wer erinnert werden muß, sind die uns nachfolgenden Generationen, um eine Wiederholung zu vermeiden. (…) Mein Vorschlag ist, im Rahmen Ihrer Aktion uns Alten etwas Freudiges zu geben, etwas, worüber wir lächeln und schmunzeln können, wenn wir es sehen.“

So bleibt aktuell bis heute bei ihrer ungewöhnlichen Mischung: fröhliche Kindheitserinnerungen wachzurufen – an den Berliner Zoo, das KaDeWe, Parks und die Berliner Schnauze –, über die heutige Entwicklung der Stadt zu berichten, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen und gleichzeitig an das zu erinnern, was nicht wiedergutzumachen ist, doch nie vergessen werden soll. Normalität gibt es nicht und kann es nicht geben im Verhältnis zwischen der „(ehemaligen) Heimat“ und den „(ehemaligen) Mitbürgerinnen und Mitbürgern“. Was auch immer man füreinander ist: Auf Berliner Seite und bei vielen – nicht allen – Emigrantinnen und Emigranten gab es das Bedürfnis nach Begegnung und Auseinandersetzung. Das Besuchsprogramm, an dem bis heute mehr als 35.000 Personen teilgenommen haben, und die Zeitschrift aktuell bieten seit bald fünfzig Jahren Raum und Medium für diese Begegnung, wodurch in all den Jahren auch manch innige Freundschaft entstanden ist.

Der Blick geht in die Zukunft: 2010 waren alle Besuchswünsche auf der Warteliste erfüllt. Seitdem finden keine Gruppen-, sondern nur mehr Individualbesuche statt. Erschien aktuell Ende der Neunzigerjahre mit einer Auflage von 15.000, so sind es heute noch 8.000. Viele Emigrantinnen und Emigranten der ersten Generation sind inzwischen leider verstorben. Nachfolgende Generationen sprechen meist kein Deutsch. Mit der Jubiläumsausgabe 100 erscheint aktuell deshalb erstmals zweisprachig in Deutsch und Englisch. Es ist ein Experiment, denn jenseits der Sprachbarriere stellt sich die Frage, ob und welche Verbindung die zweite und dritte Generation überhaupt zu Berlin hat. Diese Frage lässt sich, wie für die erste Generation auch, nur individuell beantworten. Für den einen oder die andere besteht ein Band fort, wie die 25-jährige Gabriela Mendelsohn aus Südafrika in diesem Heft (S. 44) über ihren Berlinbesuch schreibt:
„Seeing my grandfather’s home city made me connect to a part of myself that could only be brought out through seeing a part of him – where he was born and where he lived till the age of four. (…) History may be something that happened in the past, but it is something that is forever present, influencing the way we are and the way we act with the world. My grandfather’s past is my present, and that is how we make history!”