Sie haben Ihren Mann 1997 verloren. Danach haben Sie den Creative Writing Kurs gemacht, der den Stein ins Rollen brachte…
Mein Mann hat 28 Jahre lang in der jüdischen Organisation „Y“ gearbeitet. Wir waren sehr verbunden mit der Organisation und ich bin nach seinem Tod deren Seniorenclub beigetreten. Irgendwann habe ich einen Memory-Writing-Kurs besucht, ohne aber anfangs etwas zu schreiben. Ich habe aber gehört, was die anderen Damen schrieben, denn man las seine Texte vor. Eines Nachts habe ich erstmal zwei Artikel über meine Großmütter geschrieben und dann den Artikel „The day I went into hiding“. Als ich den dann vorgelesen habe, habe ich festgestellt, wie wenig die Leute über Details wissen, was wirklich war. So habe ich dann eineinhalb Jahre lang immer wieder nachts geschrieben, auf Englisch. Dann sah mich der Filmemacher Thomas Halaczinsky in dem Kurs – er drehte etwas über die Kurslehrerin – und setzte sich mit mir in Verbindung. Wir haben uns unterhalten und er sagte mir, er möchte einen Dokumentarfilm machen, der aber zum Teil in Berlin gedreht werden müsste, weil hier
alles geschehen ist. Das war 2003, als ich nach 57 Jahren zum ersten Mal nach Berlin zurückgekommen bin, mit Thomas Halaczinsky.
Musste er Sie sehr überreden?
Nein. Auch die Schüler fragen mich dies oft nach meinen Lesungen – nach all dem, was mir hier passiert ist und nachdem ich 64 Jahre in Amerika gelebt habe. Für mich ist Berlin immer etwas anderes gewesen. Denn ich hatte deutsche Helfer. Wenn es auch nur 16 Helfer waren – Deutsche haben mir geholfen. Deutsche haben etwas getan, was gegen die Regierung war. Sie haben ihren Kopf hingehalten. Wenn sie geschnappt worden wären, wäre es ihnen übel ergangen. Sie haben es trotzdem gemacht. Sie waren Menschen. Menschen, die sich gesagt haben: „Was geschieht, finden wir nicht richtig.“ Und so waren alle, die uns geholfen haben. Ich bin ja nicht die einzige, die versteckt war. Ich weiß von jemandem, der hatte 50 Helfer. Das sind Menschen gewesen, die sich nicht haben einschüchtern lassen.
Haben Sie nach dem Krieg versucht, Ihre Helfer ausfindig zu machen?
Die Familie Camplair, die mich zuletzt bei sich versteckt hatte, lebte nach dem Krieg nicht mehr unter der alten Adresse, Fasanenstraße 70. Deshalb hat sie mein Brief, den ich damals geschrieben hatte, nie erreicht. Erst viele Jahre später bekam ich einen Kontakt durch das deutsche Entschädigungsamt. Frau Camplair hatte Wiedergutmachung für ihre Hilfe beantragt und bekam bis zu ihrem Tod einen Ehrensold. Durch die neue Adresse war auch die
Verbindung zu ihrer Nichte Gretchen hergestellt, die ich zuletzt an dem Tag gesehen hatte, an dem ich – mit ihr den Weg vom Zoo-Bunker nehmend – in die Hände der Greifer gefallen war. Wir waren bis zu ihrem Tod in Kontakt. Die Namen und Adressen meiner anderen Helfer habe ich verdrängt und sie sind auch nicht mehr in meinem Gedächtnis zu finden. Ich muss auch sagen, dass wahrscheinlich vieles geschehen ist, das ein bisschen anders war, als es heute in meinem Kopf ist. Dafür ist die Zeit zu lang und man hat nach der Befreiung natürlich versucht, zu verdrängen. Zu verdrängen, aber nicht zu vergessen.
Sie sind 1946 mit Ihrem Mann in die USA, ein Ihnen völlig fremdes Land, gegangen. Hatten Sie Sorgen, wie Sie dort – auch finanziell – ein neues Leben starten könnten?
Die Schwester meines Mannes lebte in New York. Wir hatten nach der Befreiung im Juni 1945 in Theresienstadt geheiratet, einen Tag bevor der letzte Rabbiner das KZ verließ. EinenTag später kam über die Militärpost ein Telegramm nach Theresienstadt, man solle Herrn Friedländer finden. Seine Schwester hatte gelesen, dass er überlebt hat. Ich bin ein positiver Mensch. Ich dachte damals: Versuche, das Beste daraus zu machen. Ichkonnte etwas Englisch, mein Mann nicht. Er war aber sehr sprachbegabt und lernte es in kurzer Zeit. Wir sind mit nichts gekommen. Es hat zwei Jahre gedauert, bis wir uns ein Bett kaufen konnten.
Zuerst wurden wir in einem Hoteluntergebracht. Nach zwei Wochenhaben wir uns ein Zimmer gesucht und angefangen zu arbeiten. Icharbeitete in verschiedenen Schneidereien, später wurde ich Reiseagentin. Mein Mann arbeitete erst in einer Druckerei, dann in einem Hutgeschäft und bekam später die Anstellung bei der „Y“.
Haben Sie während all der Jahre mit Ihrem Mann über die Zeit in Theresienstadt gesprochen?
Nein, wir brauchten nicht darüber sprechen. Wir haben es beide erlebt, wir haben beide dieselben Schmerzen gehabt, wir haben beide die Familien verloren. Das Problem war jedoch, dass uns niemand gefragt hat nach irgendetwas. Neulich wurde mir gesagt, dass es vielleicht aus Angst war, nicht zu fragen.
Keiner Ihrer Freunde in New York hat Sie gefragt: Wie war das eigentlich?
Nein, es waren aber auch viele Freunde darunter, die Freunde meines Mannes von früher waren, die emigriert waren und auch ihre Familien verloren hatten. Wir haben nicht darüber gesprochen und uns hat niemand gefragt.
Worüber haben Sie dann miteinander gesprochen?
Über unser neues Leben, über Politisches, über den Alltag – aber nichtdarüber, was war.
Ich glaube, dass viele der Emigranteneine gewisse Sehnsucht hatten nach dem alten Leben und, ohne es sich einzugestehen, eine gewisse Sehnsucht hatten nach dem: „Was wäre gewesen, wenn?“ Was man ja nicht beantworten kann. Ich glaube, viele haben sich gesagt: „Wir haben es zwar geschafft, wir haben eine schöne Wohnung und ein Auto –aber wie wäre unser Leben gewesen, wenn wir in Deutschland hätten bleiben können?“ Aber warum sollte man an einem Abend unter Freunden darüber sprechen? Man hat lieber darüber gesprochen, was im Theater läuft oder was beruflich passiert.
Glauben Sie, dass Sie sich verändert haben, seit Sie über Ihre Vergangenheit öffentlich sprechen?
Ja, ich lebe bewusster heute. Aber das hat sicherlich auch mit dem Alter zu tun. Ich sehe die Schönheit. Ich erfreue mich an jeder Blume und an der Landschaft. Aber ich denke, das geht vielen so, dazu braucht man das nicht erlebt zu haben. Ich hatte auch viele schöne Jahre mit meinem Mann in den USA, wir sind wunderbargereist. Eine Verwandte meines Mannes sagte mir neulich: „Du bist anders geworden. Du warst in deiner Ehe ruhig und dein Mann war der, der stark war.“ Ich sagte, oftmals ist eine ruhige Frau „behind“ die Starke. Ich kann es nicht sagen, wahrscheinlich war ich anders in den 52 Jahren Ehe. Ich war sehr froh, dass ich lieben konnte, dass ich jemanden wie meinen Mann hatte. Was ich dann später hier in Berlinerlebt habe, hätte ich nie erwartet. Ich bin vom Bundespräsidenten eingeladen worden, habe viele wunderbare Menschen kennengelernt. In Amerika wäre das so nicht gewesen.
Ich bin dankbar für das, was ichmachen kann. Ich glaube, dass ich dadurch Menschen ein bisschen aufwecke, um ihnen etwas zu sagen, was wichtig ist im Leben. Junge Menschen leben oft in den Tag hinein. Ich sage ihnen: „Seid euch mehrbewusst, euch auch das Leben der anderen vorzustellen. Akzeptiert, dass Menschen anders sind. Wir sind nicht gleich und wir können nicht gleich sein. Jeder ist individuell und wertvoll.“
Sie sind in den 52 Jahren nur einmal mit Ihrem Mann nach Deutschland gereist – nach München…
Ja, nach Berlin wollte er nicht. Es hat ihn sehr geschmerzt, dass seine Mutter in Auschwitz umgekommen ist. Wir haben nie wirklich darüber gesprochen. Aber warum sollten wir darüber sprechen? Wir wussten es. Wir haben uns ohne Worte verstanden. Es war eine besondere Ehe von einer besonderen Wärme, Freundschaft, Tiefe, Verständnis. Mein Mann hat mich nach der Befreiung in Theresienstadt gefragt: „Kannst du dir vorstellen, mit mir ein neues Leben aufzubauen in Amerika?“ Ich war nicht in ihn verliebt. Ich war kalt und erschüttert. Ich fragte mich: Was mache ich jetzt? In diesen Stundender Befreiung dachte ich mir, dass ich nun erfahren würde, was aus meinen Eltern, meinem Bruder, meinen Angehörigen geworden ist. Und die Fragen: Wohin gehe ich? Wen habe ich? Und er war da.
Als wir uns im Lager getroffen haben, kannten wir uns vom Jüdischen Kulturbund in Berlin. Er – elf Jahre älter als ich – hatte damals keine Augen für mich gehabt, ich war noch ein kleines Mädelchen gewesen. Er war ein Mann, der eine sehr gute Position hatte beim Jüdischen Kulturbund. Als wir uns dann wiedersahen im Lager – dieses Treffen, dieses Wissen um die gemeinsame Vergangenheit, wo man gemeinsame Bekannte hatte, dieselbe Sprachesprach, und auch der Verlust der Eltern im KZ – da war soforteine Bindung, eine Wärme, die uns zusammengebracht hat. Etwas Gemeinsames. Nicht wie es normalerweise ist – dass man gemeinsam Essen oder ins Theater geht oder dass sich aus einer Freundschaft mehr entwickelt. Es war etwas, das uns miteinander verbunden hat. Die Befreiung zusammen zu erleben. Zuerst die letzten Monate im Lager. Das offene Tor. Dazustehen und zu wissen: Du darfst rausgehen, du wirst nicht erschossen.
Die Liebe kam später, aber vielleicht war sie immer auch ein bisschen anders. Es war eine unglaubliche, warme Bindung.
Mein Mann wurde in den letzten acht Monaten leider schwer krank. Kurz vor seinem Tod sagte er mir die Worte: „Happy life, happy days, happy life.“ Wir hatten eigentlich immer Deutsch miteinander gesprochen, deshalb fand ich es erstaunlich, dass er diese Worte auf Englisch sprach.
Sie sagen, Menschsein ist Ihnen wichtig. Kann man nach so vielen Schicksalsschlägen noch an ein Menschsein glauben?
Trotz allem, was mir passiert ist, bin ich dankbar für mein Leben. Ich habe viel Schlimmes in Deutschlanderlebt, ohne bitter zu sein. Ich bin nicht verbittert. Es ist mir wichtig, an die jungen Menschen weiterzugeben, offen zu sein für andere Kulturen. Und vorsichtig gegenüber dem zu sein, was man ihnen sagt. Es geht auch nicht darum, in den Taghinein zu leben. Die meisten Menschenmachen das. Das Leben ist vielmehr als Essen, Trinken und Arbeit. Es geht auch darum, etwas zurückzugeben. Auch wenn man nicht viel hat.