Gerade erhielt ich das, wie immer, gern gelesene aktuell. Ich bin gerade dabei, die Familiengedichte meines Vaters, Otto Bernstein (Elberfeld, 1873 – Melbourne, 1961), für meine Kinder und Enkelkinder zu übersetzen. Ich bin in der Wielandstraße, Charlottenburg, aufgewachsen, bis ich mit einem Kindertransport im Dezember 1938, als 15-Jähriger, nach England ging.
Ich dachte, dass das folgende kleine Gedicht meines Vaters, geschrieben in Berlin am 25. Februar 1942, Ihre Leser vielleicht interessiert:
Rätsel
Ich bin ein seltner Vogel jetzt geworden.
Man fürchtet mich und doch sieht man mich gerne.
Ich komme bald vom Süden, bald vom Norden.
Bald von der Nähe, bald von weiter Ferne.
Aus weiter Ferne bin ich meist willkommen,
Doch komm ich aus der Nähe angeflogen,
Da wurde manchem schon das Herz beklommen
Und Kummer hat bald das Gemüt umzogen.
Das meinesgleichen dir nur Freude trage,
Das ist der langen Rede kurzer Sinn.
Das ist mein Wunsch für dich am heut’gen Tage.
Nun rate mal was ich für’n Vogel bin.
Das Gedicht ist zum Geburtstag meiner Oma, seiner Schwiegermutter, geschrieben, die in der Wielandstraße einen Stolperstein hat. Gelegt vor 20 Jahren von einem Berliner, der weder sie noch jemanden von der Familie kannte, in diesem Miethaus wohnte, und von ihr hörte.
Zu dieser Zeit war die Tochter meiner Oma (meine Mutter) in England, ihr Sohn in den USA und ich, ihr einziger Enkel, in Australien beim Obstpflücken nach 18 Monaten als Internierter hinter Stacheldraht.
Mein Vater überlebte Theresienstadt. Meine Oma nicht.