Ein musikalischer Streifzug durch Berlin

von Saskia Inken Rutner, Sängerin und Schauspielerin

Chansonfest Berlin

Wenn man sich in Berlin, egal an welchem Tag, für ein Konzert entscheiden möchte, hat man die Qual der Wahl. Das musikalische Angebot dieser Weltstadt ist so vielfältig, dass man sich immer gegen etwas entscheiden muss und ein „Dafür“ bekommt. Am besten man lässt sich einfach treiben.

Donnerstagabend 20.20 Uhr. Eine zierliche Frau singt mit tiefer, rauchiger Stimme „In dieser Stadt“. Sie zieht genüsslich an ihrer Zigarette und schaut herausfordernd in das gespannte Publikum. Die Kabarettistin, Schauspielerin und Sängerin Yvonne Fendel veranstaltet heute Abend wieder ihr beliebtes Programm „Tapetenwechsel“, eine Hommage an Hildegard Knef. Die Bühne: das Corbo im Stadtteil Treptow, laut Berliner Morgenpost „die beste Adresse der Stadt für Chanson und Kleinkunst“. Fendel und ihre Partnerin, die Sängerin Lisa Zenner, eröffneten die Bühne in dem ruhigen, grünen Kiez im Jahr 2010, nach ihrem Umzug von Straßburg in die Hauptstadt. Dafür mieteten sie eine leer stehende Pizzeria und verwandelten diese mit Klappsitzen aus einem DDR-Hörsaal, Flohmarktlampen und alten Schulstühlen in ein 99-Plätze-Theater.

Ein mutiges Unterfangen, denn der Standort in der Kiefholzstraße galt lange als Niemandsland, fernab der Berliner Kulturorte. Obwohl der quirlige Bezirk Kreuzberg um die Ecke liegt, gleicht der Standort auch über 25 Jahre nach dem Mauerfall einer Ödnis. Doch in den vergangenen Jahren ist das Corbo zur wichtigen Schnittstelle geworden zwischen den etablierten Berliner Kleinkunstbühnen und den in der Stadt beliebten Open Stage-Abenden, an denen sich noch unentdeckte Talente ausprobieren können. „Paris liegt in Treptow“, so der Tagesspiegel. Tatsächlich gilt das Corbo für Chanson- Liebhaber mittlerweile als Geheimtipp jenseits berühmter Bühnen wie der Bar jeder Vernunft oder dem Tipi am Kanzleramt.

Karl Neukauf

Im Jahr 2012 übernahmen Fendel und Zenner die Leitung des traditionellen „Chansonfest Berlin“, das seit 1996 als eines der größten Musik festivals des Chansons im deutschsprachigen Raum gilt. Hier werden jedes Jahr Neuentdeckungen präsentiert, die ausnahmslos eigene Lieder spielen.

„Seitdem wir die Leitung des Chansonfestes 2012 übernommen haben, gibt es auch keinen Nachwuchs- Wettbewerb mehr. Wir halten es da mit Béla Bartók: ‚Competitions are for horses, not artists‘. Wir möchten das Miteinander der Künstler fördern.“ so Lisa Zenner. Das Corbo liefert dafür den Raum, eine Atmosphäre mit viel Platz für Zwischentöne.

Einer der Künstler, die sich auf dem diesjährigen Festival präsentierten, ist der junge Chansonnier Karl Neukauf. Mit seiner warmen Bariton- Stimme erzählt er auch von fein beobachteten Alltagssituationen in seiner Wahlheimat Berlin – mal mit trockenem Humor, mal mit zärtlicher Melancholie. Seine Lieder schreibt er meist in einer alten Kneipe im Bayerischen Viertel gegenüber des Rathauses Schöneberg oder ein paar Fußminuten entfernt in seinem Wohnzimmer am Berliner Salon-Flügel.

Heute Abend ist Neukauf wieder als Pianist der Salonband im Einsatz. Die Bar Kugelbahn im Stadtteil Wedding füllt sich für das Konzert der Band, die 2012 von vier Berufsmusikern gegründet wurde und die „den echten Berliner Underground repräsentiert“, so Hans Rohe, der Gitarrist der Band.

Combine

Elf Kilometer südwestlich im Stadtteil Wilmersdorf heizen die „ Acoustic Hippies“ dem Publikum in der Musikkneipe Rickenbackers ein. In Berlin gibt es auch eine ausgeprägte Coverband-Szene auf hohem Niveau. Die „Acoustic Hippies“ geben ihren Eigen-Interpretationen eine ganze eigene Note und ziehen ihrerseits Fans in Scharen an. Mit virtuosem Solo- und Satzgesang untermalt von akustischen Gitarren und Percussion zelebrieren die vier stadtbekannten Musiker der ehemals florierenden West-Berliner Live-Club-Szene Hits der 1960er und 1970er Jahre. „Wir spielen die Musik der heutigen Entscheidungsträger“, resümiert schmunzelnd Ingolf Kurkowski, der Percussionist des Berliner Quartetts. Die Fans zwischen fünfzig Jahren und siebzig aufwärts jubeln, als Sänger Friedemann Benner mit seiner markanten Stimme „Hotel California“ der Eagles anstimmt.

Neun Kilometer weiter im beliebten Liveclub Kaffee Burger im Stadtteil Mitte feiern Zwanzig- bis Mitte Dreißigjährige die junge Indie Rock-Band „Combine“. Die aus dem Norden Israels stammenden Musiker sind im Juni 2014 nach Berlin gezogen und spielen seitdem unermüdlich Konzerte in der Hauptstadt und in ganz Europa. Mit ihrer markanten Mischung aus treibendem Rock und melodiös-düsterem Pop und dem leidenschaftlichen Gesang ihrer Sängerin Daniel Tourgeman haben sie sich mittlerweile auch eine beachtliche Fangemeinde in Berlin erspielt.

Kirill Petrenko ist designierter Chefdirigent der Berliner Philharmoniker

In der Berliner Philharmonie spielen heute Abend die Philharmoniker unter der Leitung von Chefdirigent Sir Simon Rattle Werke von Benjamin Britten und Dmitri Schostakowitsch. Der 60-jährige Rattle wird das Haus im Jahr 2018 auf eigenen Wunsch nach 15 Jahren verlassen. Im Mai 2015 ernteten die Mitglieder des weltberühmten Orchesters Hohn und Spott, da sie sich nach einem zwölfstündigen Wahlmarathon nicht auf einen Nachfolger für Rattle einigen konnten. Ende Juni wurde dann die Entscheidung gefällt, doch die Wahl fiel überraschenderweise auf keinen der Topfavoriten. Neuer Chefdirigent wird Kirill Petrenko, amtierender Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. Der 43-jährige Russe gilt als einer der begabtesten zeitgenössischen Dirigenten und als Experte für Hochromantik. Im Gegensatz zum quirligen, kommunikativen Rattle wird er jedoch als öffentlichkeitsscheu beschrieben, die Tageszeitung „Die Welt“ nannte ihn sogar einmal „Phantom der Oper“. Doch mit dem bescheidenen Maestro, der sich ausschließlich als Diener am Werk sieht, erwartet die Philharmoniker eine spannende künstlerische Perspektive für die Zeit nach Rattles Abschied.

Im Corbo geht der Abend zu Ende. Yvonne Fendel erntet für ihr Programm Standing Ovations. Doch da der Mietvertrag für das Corbo nicht verlängert wurde, wird Mitte 2016 Schluss sein. „Wir halten uns noch alle Optionen offen“, so Lisa Zenner.

Es heißt, dass der Hamburger Vermieter ein Restaurant in den Räumen plant. Auch das ist typisch für die Berliner Musikszene. Gestern eine Pizzeria, heute eine renommierte Chanson-Bühne, morgen ein Lokal mit japanischer Küche. Bühnen kommen und gehen. Berlin – die Stadt, die immer im Wandel ist. Sie entwickelt sich.