Im Februar erstrahlte Berlin zum 63. Mal im Glanz der Berlinale. Elf Tage lang rückte die Stadt in den Mittelpunkt der internationalen Filmwelt: Über 400 Kinofilme wurden präsentiert, 19 von ihnen traten im Wettbewerb um den Goldenen Bären gegeneinander an. Stars wie Catherine Deneuve, Jane Fonda und Nicolas Cage flanierten über den roten Teppich, und wie jedes Jahr hofften viele Menschen in den langen Schlangen vor den Verkaufsschaltern darauf, eines der begehrten Kinotickets zu bekommen.
Ein ganz besonderer Moment jeder Berlinale ist die Verleihung des Goldenen Ehrenbären, mit dem große Filmkünstler für ihr Lebenswerk geehrt werden. 2013 ging dieser Preis an den französischen Regisseur Claude Lanzmann. Im Rahmen einer Hommage zeigte die Berlinale das Gesamtwerk des 1925 als Sohn jüdischer Eltern in Paris geborenen Filmemachers. Einem großen Publikum bekannt wurde Lanzmann vor allem durch seinen Dokumentarfilm Shoah aus dem Jahre 1985. Zwölf Jahre lang arbeitete er an diesem neunstündigen Monumentalwerk, mit dem er inhaltlich und formal neue Wege beschritt und sich gegen bestehende Darstellungskonventionen wandte. In Shoah beschränkte sich Lanzmann auf Interviews mit Zeitzeugen und auf Bilder von seinen eigenen Reisen an die Orte des Verbrechens. Er verzichtete bewusst auf jegliches historisches Archivmaterial, denn Lanzmann ist von der Undarstellbarkeit des Holocaust überzeugt. Gerade durch diesen gewählten Ansatz und Lanzmanns besonderen
Erzählrhythmus entwickelt Shoah eine Intensität wie kein anderer Film zu diesem Thema.
Vor der Preisverleihung hatte sich Lanzmann im Berliner Rathaus in das Gästebuch der Stadt Berlin eingetragen und war zu einem Gespräch mit dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit eingeladen worden. Wowereit zeigte sich hoch erfreut über die Entscheidung der Berlinale-Leitung: „Wer, wenn nicht Claude Lanzmann, wäre im 80. Jahr nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein besserer Träger des Ehrenbären? Die Berlinale zeigt damit ihr politisches und historisches Bewusstsein, das die Berliner Filmfestspiele vor anderen Festivals besonders auszeichnet.“
Die Preisverleihung am Abend fand im Berlinale-Palast am Potsdamer Platz statt, dem glamourösen Zentrum der Festspiele. Der ehemalige Leiter der Berlinale, Ulrich Gregor, erklärte in seiner Laudatio, Lanzmann habe einen Meilenstein in der Geschichte des Kinos geschaffen: „Es gibt eine Zeit vor Shoah und eine Zeit danach.“ Anschließend überreichte Festival-Direktor Dieter Kosslick Claude Lanzmann den Goldenen Bären. „Das ist eine große Ehre“, sagte der zu Tränen gerührte, ganz bescheiden wirkende Preisträger. Über seinen bekanntesten Film sagte er: „Ich wusste, dass Shoah nach dem langen Schweigen eine Befreiung für die Deutschen sein würde, um immer offener über ihren eigenen Schmerz zu sprechen.“
Der 87-jährige Regisseur wies auf die große Bedeutung hin, die diese Ehrung für ihn darstelle, denn zu Berlin habe er eine sehr enge und besondere Beziehung. Lanzmann lebte zwei Jahre in Berlin, er arbeitete 1948/49 als Lektor an der Freien Universität. Zuvor hatte er während des Krieges in der französischen Résistance gekämpft. In seiner Rede berichtete Lanzmann davon, wie er die Luftbrücke miterlebt und Berlin in Schutt und Asche gesehen habe. 2009 hatte er in seiner Autobiografie „Der patagonische Hase“ geschrieben: „Ich liebte und liebe immer noch Berlin, und nie werde ich dahinterkommen, was die ehemalige Reichshauptstadt, heute Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschland, eigentlich für mich bedeutet.“
Im Anschluss an die Preisverleihung wurde Lanzmanns Film „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ gezeigt, der vom Aufstand im Vernichtungslager Sobibor handelt. „Museen und Gedenkstätten dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung,“ heißt es im Prolog des Films. Deswegen, so Lanzmann, freue er sich über den Goldenen Bären und darüber, dass seine Filme gezeigt werden.