In mehr als vier Jahrzehnten haben bisher etwa 35.000 Personen an dem Berliner „Emigrantenprogramm“ teilgenommen. Es ist damit das bei weitem größte derartige Einladungsprogramm deutscher Städte. Es richtet sich an die von den Nazis aus ihrer Heimatstadt vertriebenen ehemaligen Berlinerinnen und Berliner und jeweils eine Begleitperson. Auch wenn nicht ausschließlich Vertriebene jüdischen Glaubens eingeladen waren, stellten diese doch den ganz überwiegenden Teil der Gäste. Von ihnen waren wiederum die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer heute Bürger Israels oder der USA. Somit kann das Berliner „Emigrantenprogramm“ auch unter dem Blickwinkel des deutschen Dialogs mit amerikanischen Juden betrachtet werden. Dieser unterscheidet sich in manchem vom Dialog mit Juden aus Israel oder anderen Ländern. Unterschiede aber sind auch festzustellen bei dem Vergleich des Dialogs mit amerikanischen Juden im allgemeinen und mit solchen deutscher Herkunft im besonderen.
Über anderthalb Jahrzehnte hatte ich in verschiedenen offiziellen Funktionen – und jetzt als Leiter der für das Berliner „Emigrantenprogramm“ zuständigen Abteilung in der Senatskanzlei des Landes Berlin – sowie in vielen privaten Kontakten Gelegenheit zu Gesprächen vor allem mit amerikanischen und israelischen Jüdinnen und Juden. Unter ihnen waren oft auch solche deutscher Herkunft, also diejenigen, die in Israel als „Jeckes“ bezeichnet werden. Im Folgenden aber möchte ich mich auf den Dialog mit amerikanischen Juden beschränken. In ihm habe ich folgende persönliche Eindrücke gesammelt und Thesen entwickelt, die aber keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können.
Der Dialog mit amerikanischen Juden aus einer deutschen Sicht
Für einen nicht-jüdischen Deutschen der Nachkriegs- bzw. Nach- Holocaust-Generation ist der Dialog mit amerikanischen Juden und ihren Organisationen sehr reizvoll und bereichernd, aber auch eine große intellektuelle und vor allem persönliche Herausforderung. Themen meiner Gespräche waren vor allem die Bedeutung des Holocaust für die Identität von Deutschen (und Juden), die deutsche Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur sowie die Lage von Juden im heutigen Deutschland. Eine Rolle spielten aber auch das deutsch-israelische Verhältnis, der Nahost-Konflikt und der Iran, daneben der Antisemitismus und der Einfluss rechtsradikaler wie auch moslemischer Gruppen in Deutschland und Europa.
Deutschland bleibt ein Thema
Bei zahlreichen Begegnungen, Vorträgen und Diskussionen, die oft in Zusammenarbeit mit amerikanischen Partnern (jüdischen Organisationen, Synagogen, Holocaust Centern, Jewish Studies-Programmen von Universitäten) durchgeführt wurden, aber auch in Begegnungen mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Berliner „Emigrantenprogramm“ habe ich die meisten amerikanisch-jüdischen Gesprächspartner als eine anspruchsvolle und im Vergleich mit anderen Amerikanern überdurchschnittlich an Geschichte und Vorgängen im Ausland interessierte und gut informierte Gesellschaftsgruppe erlebt. Deutschland ist für sie auch heute noch ein „Thema“. Das gilt nicht nur, aber besonders für amerikanische Jüdinnen und Juden deutscher Herkunft.
Zahlreiche Gesprächspartner zeigten sich nicht nur an Deutschland interessiert, sondern berichteten auch von eigenen Erfahrungen in und mit Deutschland. Ganz besonders ausgeprägt ist dieses Interesse natürlich bei Juden deutscher Herkunft. Aber auch bei anderen ist es vorhanden. Damit unterscheiden sich amerikanische Juden in diesem Punkt von vielen anderen Amerikanern, bei denen – nicht nur an der auf den Pazifik schauenden Westküste – Deutschland (und Europa insgesamt) aus dem Blick zu geraten scheint. Gerade der Themenkomplex Holocaust und deutsche Vergangenheitsbewältigung ist für viele amerikanische Juden weiterhin von Bedeutung (wohl auch für die eigene Identität), macht Deutschland zu einem Thema. Dies mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, steht im Hintergrund doch der Holocaust als schlimmstes Kapitel der jüdischen (wie auch der deutschen) Geschichte und nicht so sehr das Interesse am heutigen Deutschland. Doch: Der Holocaust trennt Deutsche und Juden
eben nicht nur, sondern verbindet sie auch wie wohl keine zwei anderen Völker. Allerdings wird der Holocaust in einem direkten Gespräch zwischen nichtjüdischen Deutschen und Juden nur selten direkt angesprochen, ist aber auf beiden Seiten in den Köpfen wohl stets präsent. Dessen sollte man sich in einem tiefer gehenden deutsch-jüdischen Dialog stets bewusst sein.
Dialog als Teil persönlicher Vergangenheitsbewältigung
Vor allem ältere Juden deutscher Herkunft beteiligten sich besonders intensiv an den Diskussionen, die sich an meine Vorträge anschlossen. Ähnlich engagiert zeigten sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die eine der verschiedenen Einladungen zu einem Besuch Deutschlands angenommen hatten oder es planten, unter ihnen wiederum überproportional viele Vertreter der jüngeren Generation mit einem familiären Deutschland-Bezug. Gerade die Älteren schilderten dann in oft bewegten und bewegenden Worten nicht nur ihre eigenen oder familiären Holocaust-Bezüge, sondern auch ihre Eindrücke von ihren Besuchen im Nach-Holocaust-Deutschland. Mehrheitlich lobten sie dabei die Art und Weise, wie das heutige Deutschland im Rahmen seiner Erinnerungskultur mit der NS-Vergangenheit und insbesondere mit dem Holocaust umgeht. Auch habe man persönlich in Deutschland keinen Antisemitismus gespürt. Bisweilen erschienen selbst mir als Deutschen diese Berichte über das moderne Deutschland schon
übertrieben positiv. Wahrscheinlich ist diese überaus positive Sicht Ausdruck einer oft sehr geringen Erwartungshaltung, mit der sich (auch jüngere) amerikanische Juden nach zum Teil langem Zögern zu einem Besuch in Deutschland durchringen. In jedem Falle aber ist dieser Dialog gerade auch für HolocaustÜberlebende und ihre Nachkommen eine Gelegenheit, sich mit der eigenen und familiären Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich auszusprechen. Er ist somit auch ein Teil dessen, was unpassenderweise von deutscher Seite „Wiedergutmachung“ genannt wird, Teil eines Versöhnungsprozesses.
Juden deutscher Herkunft als Brücke
Ich war immer wieder beeindruckt und auch bewegt von der Bereitschaft gerade auch jener amerikanischen Juden, die trotz (oder gerade wegen?) persönlicher Erinnerungen an eigenes oder familiäres Leiden unter der NS-Herrschaft und trotz noch bestehender Vorbehalte bereit waren, an Vortrags- und Dialogveranstaltungen mit mir als einem nicht-jüdischen Deutschen teilzunehmen, zuzuhören und in ein Gespräch einzutreten. Dennoch sollte man sich keine Illusionen machen. Diejenigen, die einem nicht-jüdischen Deutschen grundsätzlich nicht zuhören oder ihre (negative) Haltung auch gegenüber dem heutigen Deutschland nicht verändern wollen, werden an einem solchen Dialog nicht teilnehmen; selbst dann nicht, wenn eine Synagoge, eine jüdische Organisation oder gar ein Holocaust Center dazu einlädt. So berichteten mir auch einige Rabbiner, die mich gern zu einem Gespräch in ihre Synagoge eingeladen hätten, dass sie letztlich davon Abstand nahmen, weil sie befürchteten, eine
Einladung an einen Deutschen könnte von Teilen ihrer Gemeinde nicht gebilligt werden. Ähnliches galt in einigen Holocaust Centern. Trat ich aber auf Einladung jüdischer Gastgeber in solchen Foren auf, blieb ein Teil der üblichen Synagogen-Besucher dem Gottesdienst fern.
Auf den ersten Blick ist überraschend, dass gerade amerikanische Juden deutscher Herkunft, die doch die ersten Opfer von Ausgrenzung, Diskriminierung, Entrechtung, Ausplünderung und schließlich auch physischer Vernichtung durch die Nazis und deutsche Mitbürger waren, am ehesten bereit scheinen, in einen Dialog mit Vertretern des Nach-Holocaust-Deutschland einzutreten. Diese Bereitschaft mag damit zu erklären sein, dass für sie – anders als für Juden ohne deutsche Wurzeln – der Gedanke an Deutschland oft auch mit positiven Erinnerungen verbunden ist, war es doch das Land ihrer Kindheit, mit dem sie auch die Muttersprache und die Kultur verbinden. Dies gilt für die sogenannte 2. Generation natürlich nicht mehr. Insgesamt aber spielen in Deutschland geborene amerikanische Juden (und vielleicht auch ihre Nachfahren) für den Dialog des amerikanischen Judentums mit dem modernen Deutschland eine ähnlich wichtige Rolle wie es die „Jeckes“ in Israel bei den ersten
Kontakten zwischen ihrem neuen und ihrem alten Heimatland taten.
Das Thema Israel
In den meisten Veranstaltungen stieß ich auf Interesse und Wohlwollen. Nur selten hörte ich Kritik oder polemische Zwischenrufe, aus denen Missfallen mit meinen Ausführungen zu schließen war. Wenn es „Kritik“ gab, dann kaum zu meinen Ausführungen zur deutschen Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur oder zur Lage von Juden im heutigen Deutschland. Skeptische oder kritische Kommentare gab es allenfalls zu den Themen Israel, Nahost-Konflikt oder Iran. Nicht überraschen kann, dass viele amerikanisch-jüdische Gesprächspartner zu diesen Themen nicht nur über umfangreiche Kenntnisse, sondern auch über ausgeprägte persönlichen Überzeugungen und Gewissheiten verfügen. Gerade die Verbundenheit mit Israel scheint als Identität stiftendes Element für viele amerikanische Juden von allergrößter Bedeutung zu sein. Insofern wurden meine Ausführungen über die engen, vertrauensvollen und sehr guten deutsch-israelischen Beziehungen und ihre hohe Wertschätzung
gerade auch durch israelische Persönlichkeiten zwar mit Überraschung registriert, aber auch sehr positiv bewertet. Schwieriger wurde der Dialog mitunter bei der allgemeinen Bewertung der Lage im Nahen Osten. Vor allem zum Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern hatten die meisten amerikanischen Juden eine sehr dezidierte Ansicht, die nicht selten einem Schwarz-Weiß-Schema folgte. Viele, aber durchaus nicht alle Dialogteilnehmer ließen einen vollkommenen Schulterschluss mit der israelischen Politik erkennen; und dies ganz unabhängig davon, welche israelische Regierung sie gerade wie formulierte; ganz unabhängig auch davon, ob es zu einzelnen Positionen dieser Politik auch in Israel selbst eine lebhafte Debatte gab. Wenn ich zu erklären versuchte, dass in Europa auch ausgewiesene Freunde Israels trotz ihrer Unterstützung für Israels Existenz und Sicherheit einerseits und Ablehnung von Terrorismus und Gewalt (z.B. durch Hamas oder Hizbullah) andererseits auch
kritische Fragen an die israelische Politik (z.B. zur Siedlungspolitik) stellen, traf ich bei einigen Zuhörern auf Unverständnis und zum Teil heftigen Widerspruch. Einige betrachten offenbar jede Israel-kritische Anmerkung von Nicht-Juden als Antisemitismus. Gerade für einen Deutschen kann es daher sehr schwierig werden, im Dialog mit amerikanischen Juden eine differenzierte Sicht des Nahost- Konflikts vorzutragen. Hier besteht die Gefahr des „Ausrutschens“ oder Missverstanden-Werdens, wovor gerade viele Deutsche große Angst haben, was wiederum einen offenen Dialog behindern kann.
Die Zukunft des Dialogs
Auch wenn es auf immer weniger Zeitzeugen der NS-Zeit und ihrer Verbrechen gibt, ist damit der Wert eines ganz speziellen Dialogs zwischen Deutschen und amerikanischen Juden nicht geringer geworden. Für viele von ihnen ist – anders als für viele andere Amerikaner – Deutschland durchaus auch heute noch ein besonderes „Thema“. Vor allem natürlich für HolocaustÜberlebende und ihre Nachfahren sowie für Juden deutscher Herkunft und ihre Kinder und Enkel. Für letztere spielen das Thema „Deutschland“ und das unter der Chiffre „Holocaust“ zusammengefasste düsterste Kapitel der deutschjüdischen Geschichte auch bei der Suche nach der eigenen Identität oft eine besondere Rolle. Somit werden die NS-Zeit und der Holocaust Deutsche und Juden wohl auch in Zukunft nicht nur trennen, sondern auch verbinden. Je mehr amerikanische Juden aber nicht nur diese Vergangenheit reflektieren, sondern vor allem auch durch Reisen einen eigenen Eindruck von den Bemühungen des
Nach-Holocaust-Deutschlands gewinnen, sich dieser schlimmen Vergangenheit zu stellen und Lehren aus ihr zu ziehen, desto realistischer und letztlich auch positiver wird bei ihnen das Deutschland- Bild. Hier trifft das Sprichwort vom „Reisen bildet“ in besonderer Weise zu. Auch die verschiedenen Emigrantenprogramme deutscher Großstädte haben zu einer solchen Meinungsbildung erheblich beigetragen. Wenn dann die eigenen Reiseeindrücke durch Informationen über die exzellenten deutschisraelischen Beziehungen und das neue jüdische Leben in Deutschland ergänzt werden, sind für einen weiteren intensiven Dialog die besten Grundlagen gelegt. Dieser kann sich dann auch Themen zuwenden, die keinen spezifisch deutsch-amerikanisch-jüdischen Charakter haben und bei denen auch allfällige Meinungsverschiedenheiten ruhig und ohne Irritationen ausgetragen werden können. Hier mag der intensive deutsch-israelische Dialog ein gutes Beispiel sein.
Zum Artikel
Der Artikel gibt die persönliche Meinung des Verfassers wieder, auch wenn sie auf Erfahrungen beruht, die er auch in offizieller Mission gesammelt hat: vor allem bei einer Vortragsreise zum Thema „Deutsch-israelische Beziehungen“ in 15 US-Städten 1997, während eines Aufenthalts als „Visiting Scholar“ beim „American Jewish Committee“ in New York 2004/05, während seiner Tätigkeit als deutscher Generalkonsul in San Francisco von 2005 bis 2009 und als für das Emigrantenprogramm zuständiger Abteilungsleiter in der Senatskanzlei des Landes Berlin. Rolf Schütte trat 1981 in den Auswärtigen Dienst ein, war in verschiedenen Referaten der Zentrale und an den deutschen Auslandsvertretungen in Moskau, Tel Aviv, New York/Vereinte Nationen, Rom und San Francisco tätig. Derzeit ist er Protokollchef und Leiter der Internationalen Abteilung des Landes Berlin.