Am 23. August 2012 feiert die viel geehrte, streitbare Schriftstellerin und Journalistin Inge Deutschkron ihren 90. Geburtstag – und damit einen ganz persönlichen Triumph: Sie hat das braune Pack, das auf ihre Ermordung aus war, um nun schon 67 Jahre überlebt!
Inges Geschichte ist bekannt, inzwischen ist sie ja geradezu eine Berliner Institution. Die zwölf Jahre ihrer gestohlenen Jugend 1933–45, davon drei Jahre als versteckte Jüdin in Berlin, hat sie 1978 in ihrem berühmten Buch „Ich trug den gelben Stern“ eindrucksvoll und spannend beschrieben. Millionen haben dieses Buch gelesen, bei weitem nicht nur als Schullektüre, und Hunderttausende konnten mit dem GRIPS-Theaterstück „Ab heute heißt du Sara – 33 Bilder aus dem Leben der Inge Deutschkron“ ihre Geschichte auf 40 Bühnen nacherleben.
Im Überleben einen Sinn zu erkennen, wurde den Entkommenen des Holocaust reichlich schwer gemacht. Niemand wollte etwas von ihnen wissen. Sie störten den Verdrängungsprozess, machten die schöne „Stunde Null“ zur Farce. Als Inge im Sommer 1946 zum Vater nach England zog, wurde sie wiederum als Deutsche diskriminiert und beschimpft. Einen Heimat-Ersatz fand sie schließlich im Londoner Büro der Sozialistischen Internationale, für die sie fünf Jahre arbeitete, eins davon in Indien. Doch 1955 zog sie wieder nach Deutschland. Die Wenigsten verstanden, dass sie mit der Rückkehr ihr Vertrauen in das neue Deutschland ausdrückte und zeigte, dass sie zur Vergebung bereit war. Inge musste feststellen, dass von Aufarbeitung der Vergangenheit, Gerichtsprozessen über die Täter oder einer nennenswerten Entnazifizierung keine Rede sein konnte. Alte Nazis und Mitverantwortliche für Hitler beherrschten Wirtschaft und Justiz, und in manchen Ministerien saßen mehr davon als zur
Nazizeit selbst.
Ab 1960 war sie als einzige Korrespondentin für Israel zuständig und machte sich mit ihrer nachbohrenden investigativen journalistischen Tätigkeit einen Namen, vor allem aber herzlich unbeliebt. Ganze 17 Jahre hielt sie es aus in Bonn. Dann reichte es. 1972 ging sie nach Israel, erneut auf der Suche nach einer Heimat.
Vor 25 Jahren lernte ich Inge bei gemeinsamen Freunden in Berlin kennen und lieben. Sie war so direkt, ja rotzfrech, berlinerisch, witzig, dabei politisch scharfsinnig und kompromisslos, dass ich noch am selben Abend beschloss, „Ich trug den gelben Stern“ auf die Bühne zu bringen.
Als ich Ende 1987 Inge in Tel Aviv mit einem Sack voll Fragen aufsuchte, schlug ich ihr spontan vor, doch nach Berlin zu ziehen. Sie war so entrüstet über diese Geschmacklosigkeit, dass ich fast um den Abbruch der Beziehungen fürchtete. Jahre später, als sie schon eine Wohnung in Berlin hatte, verstand ich sie plötzlich: Tagtäglich auf ältere Leute zu stoßen, die früher ohne Zögern zu ihrer Ermordung beigetragen hätten, war schon ein gruseliger Gedanke. Für Inge war es Realität.
Im Februar 1989 hatte „Ab heute heißt du Sara“ Premiere und wurde ein Riesenerfolg, der bis heute anhält. Während die älteren Zuschauer betroffen an ihrer Vergangenheit kauten, waren die Jugendlichen hell empört, aufgewühlt, fassungslos über Inges Schicksal und verglichen es spontan mit dem Schicksal einer allerbesten Freundin, die man verstecken will, weil sie plötzlich abgeschoben werden soll.
So verschafften die vielen jungen Menschen im GRIPS Theater Inge nach und nach ein Vertrauen in die Zukunft, in die nächste Generation, zu Berlin. Sie wurde und wird mit Einladungen in Schulen überhäuft, um sich ausfragen zu lassen, und fand sofort den richtigen Ton. Und als sie zur Zeit der neonazistischen Brandanschläge in Rostock und Mölln von Neonazis mit Briefen und Anrufen terrorisiert wurde, waren es die Kinder und Jugendlichen, die ihr mit Hunderten von Briefen Mut zum Hierbleiben machten.
Inges besonderes Anliegen aber sind die „Stillen Helden“, all jene Berliner, die jüdischen Mitbürgern in der Nazizeit unter Lebensgefahr geholfen haben und denen sie in „Ich trug den gelben Stern“ ein Denkmal setzen wollte. Dass es viele Tausend von ihnen gab, und dass Inge sie endlich ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt hat, ist auch für Berlin eine kleine Ehrenrettung.
Die ehemalige Blindenwerkstatt von Otto Weidt, der nicht nur Inge zu überleben half, ist heute ein lebendiges Museum, Sitz ihres Fördervereins „Blindes Vertrauen“ und zentrale Gedenkstätte für die Stillen Helden. Gute Freunde wie der Staatssekretär André Schmitz halfen, dass erstmals in Deutschland an den Häuserfronten dieser Schutzengel Ehrentafeln eingeweiht wurden.
In ihrem leidenschaftlichen Einsatz für ein menschenfreundlicheres Zusammenleben und gegen das Vergessen entwickelt Inge ständig neue Ideen. Vor acht Jahren gründete sie das „Blumenprojekt“, seitdem besucht eine große Zahl von Schülern jedes Jahr zum Auschwitz-Tag Überlebende des Holocaust mit Blumensträußen.
Das Bundesverdienstkreuz hat Inge Deutschkron dreimal abgelehnt. Sie wollte keinen Orden mit Hunderten alter Nazis teilen, die unter Adenauer damit bestückt wurden. Den Berliner Landesorden dagegen ließ sie sich ohne Bedenken von Klaus Wowereit um den Hals hängen. Den gibt es erst seit 1987. Und von ganzem Herzen Berlinerin war sie immer und wird sie immer sein, seit sie als Kind mit den Eltern von Finsterwalde an den Prenzlauer Berg zog.
„Inge Deutschkrons Engagement verändert unsere Gesellschaft zum Guten“, hat Klaus Wowereit gesagt. Inge hat endlich die Anerkennung gefunden, die sie verdient, sie ist wieder eine von uns, das macht uns glücklich, dankbar und sehr stolz.
Aber Inge hat keine Angehörigen, keine Familie. Jede Beschreibung, jede Erinnerung ist auch ein schmerzhaftes Wieder-Erleben. Wie wir sie brauchen, braucht sie auch uns. Allerdings braucht sie keine Sprüche, sondern Tatkraft. Kein Betroffensein, sondern Fröhlichkeit. Keine Ehrerbietung, sondern Wärme, Verlässlichkeit, Freundschaft durch dick und dünn.
In diesem Sinne, liebe Inge, die herzlichsten Glückwünsche zum 90. Geburtstag!