Als ich aufwuchs, fragte man uns nicht ständig: „Was ist Judentum?“, „Was bedeutet euch Judentum?“ Die Fragen waren unnötig, denn wir wussten damals, was Judentum bedeutet. Es war eine Selbstverständlichkeit. Nicht jeder hatte dieselben Werte im Kopf, doch man kannte Begriffe und Werte des Judentums: Glaube, religiöse Gesetze, jüdische Geschichte, Traditionen, Kunst, Kultur, Literatur, Publizistik etc. Unser Münchner Rabbiner Hans Isaak Grünewald meinte: „Die Thora besteht aus fünf Büchern – das sechste schreibt sich jeder selbst.“
Heutzutage befürchte ich, dass die meisten nicht einmal über den Inhalt eines der fünf Thorabücher Bescheid wissen. Man kennt Moses, weiß, dass er die Gesetzestafeln am Berg Sinai empfing, später gab es die Könige David und Salomon. Letzterer baute den Tempel. Doch das steht schon nicht mehr in den fünf Büchern der Heiligen Schrift.
Heutzutage steht im Mittelpunkt der jüdischen Identität – auch dies ein Begriff, den vor einem halben Jahrhundert außer Philosophen kein normaler Mensch benutzte – die Shoah. Doch der Völkermord an sechs Millionen europäischen Juden ist keine jüdische „Errungenschaft“. Im Gegenteil! Die Shoah ist, was ihr hebräischer Name sagt, eine Katastrophe. Die Beschränkung des jüdischen Wissens auf den Holocaust ist die größte Sünde und der letzte Erfolg der Nazis.
Das Judentum besitzt eine reiche Vielfalt an ethischen Werten. Nicht umsonst ist das Judentum der Mutterglaube der zwei monotheistischen Weltreligionen Christentum und Islam – wahrscheinlich rührt daher auch der Haß vieler Moslems und Christen gegen uns Juden.
Doch Jesus selbst blieb sein Lebtag Jude. Er war vom jüdischen Glauben und von der jüdischen Ethik durchdrungen. Der Prophet Mohammed seinerseits übernahm einen Großteil seiner neuen Religion vom Judentum. Etwa den Monotheismus und die Speisegesetze.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt Deutschland als Zentrum der jüdischen Kultur, Wissenschaft, Kunst und des Unternehmertums. Man nannte Berlin damals das „neue Jerusalem“. Die deutschen Juden waren Patrioten. Dass ihre deutschen Landsleute die antisemitischen Nazis und deren Einpeitscher Hitler an die Macht brachten und den Krieg und die Shoah willig unterstützten, bleibt bis heute ein Trauma für viele europäische Juden.
Nur ganz langsam gelingt es ihnen, wieder Vertrauen in ihre alte deutsche Heimat zu setzen.
Diejenigen, die Deutschland aus eigenem Augenschein kennen, wissen, dass sich mit dem Land auch die jüdische Gemeinschaft hier insbesondere in den letzten zwanzig Jahren extrem verändert hat. Nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion immigrierten mehr als 150.000 Juden aus den ehemaligen GUS-Staaten nach Deutschland. Mehr als die Hälfte von ihnen sind heute Mitglieder der Jüdischen Gemeinde. Etwa 40.000 bis 50.000 Israelis, Amerikaner und andere Juden leben heute hier. Die jüdische Gemeinschaft Deutschlands, insgesamt 106.000 Seelen, erfährt eine Renaissance. Es gibt wieder jüdische Dirigenten, Maler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Journalisten, Kaufleute, Bankiers… Das Wissen um die jüdische Wiedergeburt, gerade in Deutschland, soll verbreitet werden. Daher haben wir die JEWISH VOICE FROMGERMANY Anfang des Jahres ins Leben gerufen.
Die Zeitung ist ein Quarterly, das in englischer Sprache weltweit über Entwicklungen des Judentums in seiner ganzen Bandbreite berichtet: Politik, Wirtschaft, Kultur, Religion. Die Zeitung wurde am 10. Januar 2012 vom deutschen Außenminister Guido Westerwelle im Herzen Berlins vorgestellt. Alle größeren deutschen Zeitungen, das Fernsehen berichteten darüber. Die europäische Presse, etwa Le Monde, BBC, Independent, und Medien aus Nordamerika, Mexiko und Australien hoben die JEWISH VOICE hervor. Mehrere tausend E-Mails von Juden und Nichtjuden in aller Welt gingen an die Redaktion. Viele wollten die Zeitung, die insgesamt in 40.000 Exemplaren aufgelegt wird, erwerben. Prominente Politiker wie der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel gaben Interviews, in denen sie ihre Solidarität mit den Juden, aber auch mit dem Staat Israel hervorhoben. In der zweiten Ausgabe schreibt der Chief Rabbi von Großbritannien, Jonathan Sacks, über Pessach. Der neunzigjährige Georg Stephan Troller
berichtet über sein Leben und seine Erfahrungen, und wir lernen russische Juden in Deutschland kennen.
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Dr. Rafael Seligmann
Der Publizist, Politologe und Zeithistoriker wurde am 13. Oktober 1947 in Tel Aviv geboren. Rafael Seligmann kam 1957 mit seinen Eltern von Israel nach Deutschland, er studierte Politikwissenschaft und Geschichte in München und Tel Aviv. „Israels Sicherheitspolitik“ lautete 1982 der Titel seiner Promotion. Seligmann machte sich einen Namen als Redakteur großer deutscher Tageszeitungen, politischer Berater und Hochschuldozent. Seine zahlreichen Bücher kritisieren und provozieren – sie geben Anlass zu politischen und geschichtshistorischen Diskussionen. Seligmann lebt heute in Berlin und hat im Januar 2012 die erste Ausgabe der JEWISH VOICE FROM GERMANY herausgebracht.