Aber natürlich schwebten auch ganz andere Bilder vor meinen Augen, damals 1954. Die Erinnerung an Briefträger in Montevideo, die von 1938 bis Ende 1941 die Laune meiner Eltern bestimmte. Natürlich wurde ich als Kind vor diesen düsteren Ereignissen verschont, soweit möglich. Aber 1954 in Deutschland, waren sie auf einmal alle zugegen.
Der Brief vom 19. Februar 1938 berichtete über Arthur Eloessers jähen Tod – ich zitiere: „Meine geliebten, guten Kinder: Ach, sie haben einen guten Mann begraben, und mir war er m e h r , uns war er mehr, nein, nicht nur uns. Die Trauer um A.E., um Deinen lieben alten Herrn, ist so allgemein, dass man erstaunend davor steht.“ Und dann erwähnt Margarete, wer alles da war: „der ganze Schriftsteller Schutzverband, Schendel, Böhmer, Heuss, vom Tageblatt Fechter, Pechel.“ Und sie beschreibt für die Tochter im fernen Lande die schönen Blumen und tröstenden Worten von den vielen lieben Freunden und Verehrern Eloessers, wie Monty Jacobs, Curt Goetz und vielen anderen.
Kaum fünf Wochen später lautet es schon ganz anders, es wird einsam um sie. Die meisten Freunde sind mit Auswanderungsplänen beschäftigt. Es wird immer schwieriger, ein Visum zu bekommen. Aber Großmutter Margarete, wir schreiben 1938, freut sich über die Beschreibung des ersten Schultages ihrer kleinen Enkelin, und dass Irenchen jetzt im fernen Uruguay wenigstens kein Paria mehr ist. Und sie erzählt auch noch von erfreulichen Einladungen: „Gestern holten mich Wistens im Auto ab, gingen mit mir fein essen.“
Bald jedoch wird es immer schlimmer. Sie heißt jetzt Margarete SARA, und ihr Pass wird mit einem „J“ versehen. 1939 muss Margarete ihre Wohnung am Litzenseeufer verlassen und in ein sogenanntes „Judenhaus“ ziehen, in der Marburger Straße. Briefe nach Uruguay können nicht mehr direkt gesandt werden, sondern müssen jetzt über Vetter Erich Rothenberg (Amsterdam) gehen und auch so empfangen werden. Manche kostbare Post geht deshalb verloren.
Der Kampf um ein Visum nach Uruguay wird immer schwieriger – Uruguay verlangt ein Depot auf zwei Jahre von 2.000 Dollar, die nicht aufzutreiben sind. Die Auswanderer hatten ja kein Geld oder durften es nicht mitnehmen. Sohn Max in Palästina konnte wirklich nichts beisteuern. Brasilien, wohin Margaretes Bruder Ernst Nauenberg 1936 geflohen war, hatte längst das Tor geschlossen. Dann kam ein Hieb auf den anderen. Ihre Rente wurde auf ein Drittel reduziert. Jeder Luftpostbrief bedeutete einen knurrenden Magen. Margarete schreibt jetzt über Bekannte, die sich das Leben genommen haben – und solche, die endlich ein Visum erhielten. Sie glaubt immer noch, dass es ihr gelingen wird, mit Gottes Hilfe, zu uns zu kommen und fleht ihre Tochter an, alten Freunden in den USA zu schreiben. Jetzt wird sie auch noch einsamer, denn Juden dürfen kein Telefon mehr haben.
Alle und alles versagt und Margarete erhält den gefürchteten Gestapo- Brief, der Deportation bedeutet. Das erfuhren wir viel später. Es gab keinen Briefaustausch mehr seit Oktober 41. Und von dem, was man so hörte, nahmen wir an, dass sie nach Theresienstadt geschickt wurde und es blieb eine blasse Hoffnung.
Der 25. Januar 1942, der Tag ihrer Verschleppung, war ein Sonntag. Ich war damals neun Jahre alt und sicherlich am Strand. Es war Hochsommer in Montevideo und bestimmt eiskalt in Berlin und im Zug, der meine Großmutter mit anderen 1.042 Menschen nach Riga brachte. Viel später, meine Mutter war 1987 gestorben, erfuhren wir, dass Margarete am 24. Januar 1942, dem Abend vor ihrer Deportation, von lieben alten nicht jüdischen Freunden, dem Berliner Anwalt Richard Grasshoff und seiner Frau Aenne, zum Abendbrot eingeladen wurde. Der Sohn Richard Heinz begleitete Margarete dann zu Fuß nach Hause. Vom Viktoria- Louise-Platz zur Marburger Straße – Juden durften ja nicht mehr mit dem Bus fahren.
Sie soll gefasst gewesen sein – ja, vielleicht sogar erleichtert, dass nun endlich die Abfahrt nach Theresienstadt erfolgen würde. Sie ahnte nichts von Riga.